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Während in Frankreich und England die Esperantobewegung bereits weite Kreise ergriffen hat, verhält man sich in Deutschland noch ziemlich ablehnend. – Dies Jahr wird nun der »Internationale Esperantistenkongreß« zum ersten Mal in Deutschland tagen und ein Deutscher, Prof. Dr. Schmidt, wird als Vorsitzender fungieren. Wir zweifeln nicht, daß dies der internationalen Hilfssprache auch in Deutschland viele Anhänger gewinnen und daß sich ein lebhafter Widerstreit der Meinungen anschließen wird. Wir bieten deshalb gewissermaßen als Einführung nachstehenden Aufsatz.

Der gegenwärtige Stand der Esperantobewegung.
Von Reinhold Schmidt.

Als in den Tagen vom 10.–17. August v. J. der dritte Internationale Esperantistenkongreß in der englischen Universitätsstadt Cambridge tagte, da nahm sich das Häuflein der deutschen Getreuen gegenüber den Hunderten von Engländern und Franzosen recht klein aus. Nur etwa ihrer dreißig waren dem Rufe von jenseits des Kanals gefolgt. Es kann dies nicht wundernehmen, wenn man bedenkt, daß sich das Esperanto vornehmlich in Frankreich und auch in England (trotz seiner eigenen »Weltsprache«, die als solche gerade von Deutschen vielfach empfohlen wird) bereits die Gunst breiter Volksschichten erobert hat, während in unserm Vaterlande die Anhängerschaft der Lingvo internacia nur erst qualitativ abzuschätzen ist.

Um so größere Würdigung verdient deshalb der zustimmende Jubel, der sich erhob, als der Vorsitzende der deutschen Esperantisten-Gesellschaft dem Kongreß die Mitteilung machte, daß es der Wunsch der deutschen Esperantisten sei, den nächsten internationalen Weltsprachekongreß auf heimischem Boden abgehalten zu sehen.

Bald wird also das Vaterland eines Schiller, der so zukunftsfreudig ausrief: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!« – das erhabene Schauspiel einer einsprachigen Völkerversammlung schauen. Wenn dieser in Aussicht stehende vierte allgemeine Kongreß nicht mindestens so glänzend verlaufen sollte wie insbesondere sein Vorgänger, so wird dies gewiß nicht die Schuld der fremdländischen Esperantisten sein. Sie haben, allen voran unser englischer Vetter und französischer Nachbar, nur auf den Augenblick gewartet, wo das spröde Aschenbrödel Deutschland seine Zurückhaltung ablegen und seinen Willen zu entschlossenem Handeln kundtun würde.

Zu entschlossenem Handeln – ja; durch eifrige Propaganda bis zu dem Tage der »Entscheidungsschlacht« müssen der grünen Standarte des Esperantobundes recht viele neue Streiter zugeführt werden, und bei zielbewußtem Vorgehen jedes einzelnen können die Erfolge nicht ausbleiben. Es fehlt allerdings nicht an mißverständlicher und voreingenommener Kritik, die ihre zerstörende Tätigkeit immer wieder aufs neue entfaltet, die aber gegen eins doch machtlos ist, so schweres (oder sagen wir besser »grobes«?) Geschütz sie auch auffahren mag: gegen festgelegte Tatsachen.

Sie kann nicht mehr die Tatsache aus der Welt schaffen, daß die Frage der internationalen Sprache bereits in befriedigender Weise gelöst ist. Alle theoretischen Bedenken verlieren ihre Bedeutung angesichts des praktischen Ergebnisses des Cambridger Kongresses, auf dem sich die Angehörigen von rund dreißig verschiedenen Nationen in fließender Weise über die heterogensten Dinge dieser Welt zu verständigen vermochten.

Aber Tatsachen müssen freilich, um zu wirken, auch bekannt werden, und dazu ist vor allem die Unterstützung der Presse nötig. Es ist freudig zu begrüßen, daß diese aus ihrer bisherigen begreiflichen Zurückhaltung mehr und mehr heraustritt, und daß besonders angesehene Zeitschriften ihre Spalten jetzt auch den Anhängern des Esperantismus öffnen. Damit kann nun erst in umfassender Weise das Werk objektiver Aufklärung über Zweck und Ziel der Weltsprache beginnen, ohne das ein dauernder Fortschritt hierin unmöglich ist.

Der Mensch verläßt im allgemeinen nur ungern die altgewohnten Gleise seines Alltaglebens, und jedem kühnen Neuerer wird stets das unwillige »Wozu dies?« entgegentönen. Und schließlich ist diese Frage ja keineswegs unberechtigt. Wer, wie es im vorliegenden Falle geschieht, eine ganze Welt nötigen will, sich vor seiner Einsicht zu beugen, der muß auch imstande sein, die zwingende Notwendigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Schmidt: Der gegenwärtige Stand der Esperantobewegung. Bechhold, Frankfurt am Main 1908, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schmidt_Stand_der_Esperantobewegung_1908.pdf/1&oldid=- (Version vom 14.2.2021)