Auf allen hohen Bergen lag ein tiefer frisch gefallener Schnee. Der zwölfte December brachte Thauwind und Sturm. Da dachte jedermann an großes Unglück, und betete. Wer sich und seine Wohnung für sicher hielt, schwebte in Betrübniß und Angst für die Armen, die es treffen wird, und wer sich nicht für sicher hielt, sagte zu seinen Kindern: „Morgen geht uns die Sonne nimmer auf,“ und bereitete sich zu einem seligen Ende. Da rißen sich auf einmal und an allen Orten von den Fürsten der höchsten Berge die Lavinen oder Schneefälle los, stürzten mit entsetzlichem Tosen und Krachen über die langen Halden herab, wurden immer größer und größer, schoßen immer schneller, toseten und krachten immer fürchterlicher, und jagten die Luft vor sich und so durcheinander, daß im Sturm, noch ehe die Lavine ankam, ganze Wälder zusammen krachten, und Ställe, Scheuren und Waldungen wie Spreu davon flogen, und wo die Lavinen sich in den Thälern niederstürzten, da wurden Stunden lange Strecken, mit allen Wohngebäuden die darauf standen, und mit allem Lebendigen, was darin athmete, erdrückt und zerschmettert, wer nicht wie durch ein göttliches Wunder gerettet wurde.
Einer von zwei Brüdern in Uri, die mit einander hauseten, war auf dem Dach, das hinten an den Berg anstoßt, und dachte: „Ich will den Zwischenraum zwischen dem Berg und dem Dächlein mit Schnee ausfüllen und alles eben machen, auf daß, wenn die Lavine kommt, so fahrt sie über das Häuslein weg, daß wir vielleicht“ – und als er sagen wollte: „daß wir vielleicht mit dem Leben davon kommen“ – da führte ihn der plötzliche Windbrauß, der vor der Lavine
Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen 1811, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schatzkaestlein_des_rheinischen_Hausfreundes.djvu/258&oldid=- (Version vom 1.8.2018)