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unserm Fremdling that niemand diesen traurigen Dienst der Liebe und Freundschaft an, bis Abends ein junges Ehepaar, Arm in Arm, auf einem Spaziergang von ungefähr über den Richtplatz wandelte, und im Vorbeygehen nach dem Galgen schaute. Da fiel die Frau, mit einem lauten Schrey des Entsetzens, in die Arme ihres Mannes: „Barmherziger Himmel, da hängt unser Bruder!“ Aber noch größer wurde der Schrecken, als der Gehenkte bey der bekannten Stimme seiner Schwester die Augenlieder aufschlug, und die Augen fürchterlich drehte. Denn er lebte noch, und das Ehepaar, das vorüber gieng, war die Schwester und der Schwager. Der Schwager aber, der ein entschlossener Mann war, verlor die Besinnung nicht, sondern dachte in der Stille auf Rettung. Der Platz war entlegen, die Leute hatten sich verlaufen, und um Geld und gute Worte gewann er ein paar beherzte und vertraute Pursche, die nahmen den Gehenkten, mir nichts dir nichts, ab, als wenn sie das Recht dazu hätten, und brachten ihn glücklich und unbeschrieen in des Schwagers Haus. Dort ward er in wenig Stunden wieder zu sich gebracht, bekam ein kleines Fieber, und wurde unter der lieben Pflege seiner getrösteten Schwester bald wieder völlig gesund. Eines Abends aber sagte der Schwager zu ihm: Schwager! ihr könnt nun in dem Land nicht bleiben. Wenn ihr entdeckt werdet, so könnt Ihr noch einmal gehenkt werden, und ich dazu. Und, wenn auch nicht, so habt ihr ein Halsband an eurem Hals getragen, das für euch und eure Verwandten ein schlechter Staat war. Ihr müßt nach Amerika. Dort will ich für euch sorgen. Das sah der gute Jüngling

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Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen 1811, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schatzkaestlein_des_rheinischen_Hausfreundes.djvu/207&oldid=- (Version vom 1.8.2018)