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entlang, die von Neustadt zum Weißen Hirsch führt. Ich Nachtspuk. war froh im Dunkeln, fern von Menschen. Wo der Waldweg sich schon zur Stadtstraße wandelt, nah heim Lahmannschen Sanatorium, sah ich vor mir auf dem Pfade drei groteske Schatten. Einen ganz langen, schwarzen Schatten und einen kugeligen, kurzen mit vorgestrecktem Bäuchlein und redenden Beinchen, und dahinter her humpelte noch traurig ein drittes unterirdisch und wehmütig verschrumpftes Gebilde. Indem ich erschreckt aufblicke, sehe ich schon dicht vor mir die drei verspäteten Nachtwandler. Ein semitischer Jüngling mit goldenem Pincenez schaut andachtsvoll nieder auf ein älteres wandelndes Synagöglein im maurischen Stil. Lublinski! hauche ich entsetzt. Und mein Blut erstarrt. Und nun höre ich schon den langen Jüngling fragen: Wie stehen Sie zu Stephan George? Und höre, wie das kleine Talmüdchen antwortet: Ich will ja gern zugeben, daß in formaler Hinsicht die Entwickelung der Moderne – aber andererseits stehe ich doch nicht an, ernsthaft davor zu warnen, daß die einseitige Ueberschätzung der ästhetischen Richtung... Um Gottes willen! schreie ich entsetzt, er ist’s! Leibhaftig! Es ist Lublinski, der wandelt hier bei Nacht durch den Wald unterm Sternenhimmel und zieht die Bilanz. Und ich lief und lief vorbei an den dreien, im guten Vertrauen darauf, daß dieser schreibende Typ, den ich den espritjüdischen nenne, zum Glück weder sieht, noch hört, noch schmeckt, noch riecht, noch ahnt, sondern redet oder schreibt...

8.

Wie wunderlich ergeht es doch mit kleinen unbedeutenden Erinnerungen unserem Lebens! Durch einen Zufall tauchte all dieses in meinem Gedächtnis wieder auf, als ich gestern Abend in der Schmuddelmopsschen Buchhandlung zwei Bücher liegen sah: Die Bilanz der Moderne[1] und Der Ausgang der Moderne[2] von Samuel Lublinski. Zwei dicke Bücher. Ich blätterte darin so ein bischen und las ein paar Seiten und dachte mir bei der ahnungslosen Klugdummheit ihres Stils: Gott, was gibt es doch in Deinem lieben Viehstall für verschiedenartig liebe Viecherchen!

Aber diese paar literarischen Klugschmusereien genügten, um mir heute eine furchtbare Nacht zu machen. Im fiebernden Halbschlaf sah ich ein großes Buch, das senkte sich zentnerschwer mir auf die Brust. Da lag es wie ein Alp. Aber plötzlich stieg aus seinen Blättern ein kleines Männchen und begann treuherzig mit den Beinchen zu predigen und streckte


  1. Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne, Berlin 1904, Verlag Siegfried Cronbach Google-USA* IA?
  2. Samuel Lublinski: Der Ausgang der Moderne – Ein Buch der Opposition, Dresden 1909, Verlag von Carl Reissner Internet Archive