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Hunger.

Von Borys Hrintschenko.

Am äussersten Ende des Dorfes stand eine verfallene Hütte und in ihr lebte ein Bauer mit seinem Weib und einem Kinde. Das Knäblein war noch winzig, es war unlängst geboren worden. Das dritte Jahr war’s, seitdem sie geheiratet – aus einem anderen Dorf hatte er sie genommen – und noch immer war es ihnen nicht gelungen, sich zu einer eigenen Wirtschaft emporzuarbeiten. Ihr ganzes Vieh bestand in einer Färse – die hatten sie heuer zum Frühjahr gekauft – und nun war auch diese vor kurzem krepiert. Und wenn sie auch nicht krepiert wäre, sie zu ernähren wären sie doch nicht imstande gewesen. Bei diesen ewigen Missernten hatte man selber kaum zu essen, geschweige denn für eine Färse. Horpyna beweinte die Färse, als wenn ihr das etwas nützen würde.

Zum Frühjahr hatte der Bauer überhaupt kein Brot mehr. Beinahe drei Wochen lang lebten sie vom Geborgten – und wie nun leben, da keiner mehr borgen wollte? Ein jeder sagte:

„Wie soll ich nur borgen? Meine eigenen Kinder hungern vielleicht, und ich – ich soll geben, geben ohne Aussicht, es jemals zurückzubekommen? Du hast dich ja schon beim ganzen Dorf verschuldet. Da könnte einer selbst einen Sack Getreide brauchen, und gibt ihn denn wer!“

Das Weib schlug Petro vor, sich bei einem Herrn zu verdingen. Er ging aufs nächstgelegene Vorwerk – man nahm ihn nicht: Knechte in Fülle, meinten sie. Er ging zu einem zweiten Herrn, der bemerkte, dass auf Petros Kleidung Flick auf Flick lag, hielt ihn für einen Barfüssler, irgend einen Landstreicher – und wollte ihn nicht in Arbeit nehmen.

„Fort!“ sagte er, „viele dieser Sorte streifen hier umher! … Jagt ihn fort!“

Und er wurde hinausgejagt. Petro wusste einfach nicht, was anzufangen. Wer ein Pferd hatte, wurde wenigstens gedungen, das herrschaftliche Holz aus dem Walde zu führen, er kann auch das nicht.

Eines Morgens stand Horpyna in aller Früh auf. Das Kind schlummerte noch. Das junge Weib machte sich leise am Ofen zu schaffen und Petro schickte sie Holz klauben. Sie macht sich am Ofen zu schaffen und grübelt:

„Wenn man nur diese Woche so halbwegs hinfristen könnte, dann könnte ich vielleicht mit Gottes Hilfe zum Vater nach Syrowatka – vielleicht, dass er ein Säckchen voll gibt. Schlecht ist es ohne Pferd: da könnte man aufsitzen, hinfahren und erledigt wär’s. Und so, bis ich irgendwo ein Pferd ausbettle …“

Die Tür ging auf. Petro brachte Holz und legte es nieder.

„Poltere doch nicht so, du weckst ja das Kind auf!“ sagte Horpyna.

Das junge Weib heizte im Ofen ein, stellte die Töpfe auf. Dann ging es zum Mehlschaff und sah hinein:

„Petro, ach Petro!“

„Ha?“

„Was werden wir tun?“

„Wie das?“

„Mehl ist nur noch für einmal da und das auch nur für zwei Laibc[h]en.“

Petro schwieg, dann meinte er:

„Was anfangen? Ich weiss schon selbst nicht …“

„Vielleicht noch bitten gehen? …“

„Zu wem denn hingehen, wenn ich schon bei allen so viel geborgt habe, dass keiner mehr was hergeben will?“

Empfohlene Zitierweise:
: Ruthenische Revue, Jahrgang 2.1904. Verlag der Ruthenischen Revue, Wien 1904, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:RuthenischeRevue1904SelectedPages.pdf/459&oldid=- (Version vom 10.9.2022)