Seite:Reventlow Werke 0606.png

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

ihn geküßt hatte, Bett am Bett mit ihm schlief und zuließ, daß er seinen Arm um sie legte? — Hätten das andre an ihrer Stelle getan?

Im Halbdunkel sah sie durch die offne Tür ins andre Zimmer — der Eiskübel stand auf dem Tisch und daneben lagen noch die Scheine. Noch war es nicht zu spät — und dann konnte sie nach München gehen.

Nein, die Treue war es nicht, die sie hielt — der Versucher von damals fiel ihr wieder ein. — Hätte ich da wohl so lange widerstanden? — Dieser Mann hier hatte keinen Reiz für sie, das war die Wahrheit, ihre Sinne sagten nicht ja — sonst wäre sie mit ihm gegangen. Und dies physische Sträuben, das sie gegen ihn empfand, war ihre Treue und ihre Kraft, — der Instinkt, der redete oder schwieg, wie es ihm gerade einfiel — weiter nichts. Sie sah ihn an, wie er dalag und schlief — Was war er eigentlich für ein Mensch? — Wie weit mochte doch vielleicht etwas Echtes an ihm sein, oder war alles nur Komödie? Brutal war er nicht gewesen, hatte sein Wort gehalten, denn was hätte es ihr geholfen, wenn sie Lärm schlug.

Es wurde Morgen, ringsum von allen Kirchen läuteten die Glocken, Ellen ging ins andre Zimmer hinüber, bis er kam. Jetzt war er unliebenswürdig und verstimmt, sah übernächtig aus — die Unordnung rings umher — alles stieß sie ab. Und draußen der frische helle Sommermorgen. Sie wollte gleich zu Allersen fahren, ihn wiedersehen, zur Besinnung kommen aus all dem wüsten Durcheinander, das ihr im Kopf wogte.

Da standen sie am Bahnhof: „Leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen viel Vergnügen für Ihr späteres Leben“ — damit war er verschwunden. Ellen hatte nicht darauf gerechnet, wieder zurückzukommen, und ihr Geld reichte nur gerade noch so weit, daß sie an Allersen telegraphieren konnte, und für ein Billett vierter Klasse nach dem Ort, wo er sie treffen sollte. Und Ernst Allersen war etwas verwundert, als Ellen ausgehungert und zerschlagen ankam, aber in ausgelassenster Stimmung, und ihm nach und nach ihr

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0606.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)