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zusammensuchte, legten sich plötzlich zwei Hände um sie und es ging wie ein Feuerstrom durch ihr Herz: Editha küßte sie auf den Mund. „Das war lieb von dir, kleine Ellen, ich hab' mich so gefreut.“

In der Arbeitsstunde um Mittag fehlten die beiden Unzertrennlichen. Zufällig kam die Klassenlehrerin herein und fragte nach ihnen, aber niemand hatte sie gesehen. Mademoiselle geriet in Aufregung, suchte und fragte durchs ganze Haus. Um Gottes willen, wo konnten die beiden sein, es war ihnen ja alles zuzutrauen. Die ganze Klasse mußte mitsuchen und es entstand ein förmlicher Tumult. Endlich entdeckte man sie oben im Schlafsaal der Kleinen, auf zwei der entlegensten Betten lagen sie und lasen sich Gedichte vor. Sie machten nicht einmal Miene aufzustehen und wollten sich halb totlachen, als die Mademoiselle wutbleich vor ihnen auftauchte. Dann wurden sie in die Klasse. hinuntergeschickt. Das Buch, in dem sie gelesen hatten, nahm die Lehrerin an sich und ging damit zur Pröpstin. Die alte Dame unterzog es einer genauen Prüfung, während sie sich den ganzen Vorfall berichten ließ. Auf dem ersten Blatt stand eine lange Widmung in Versen von Ellens Hand. Wie kam Ellen zu dem Buch, das gestern erst eine andre bestellt hatte? Nun folgte ein Verhör auf das andre, nur Ellen wurde nicht vorgerufen.

Statt dessen erschien die Vorsteherin nach Tisch selbst in der Klasse, um sie vor allen andern niederzuschmettern. Sie war in großer Toilette, weil sie nachmittags an Hof gehen wollte, die lange Seidenschleppe knisterte wie eine zornige, schwarze Schlange hinter ihr her.

Ellen stand da, beide Hände in den Schürzenlatz gesteckt und sah ihr gerade in die Augen. Sie wollte zeigen, daß sie sich nicht fürchtete, während die alte Dame mit harten, zischenden Worten auf sie einsprach:

„Mit dir, Ellen Olestjerne, werde ich von jetzt an nicht mehr unter vier Augen reden, denn du verdienst diese Rücksicht nicht mehr. Du hast meine Geduld nun bald ein Jahr lang auf eine harte Probe

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Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0542.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)