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hineintrage, über welche sie vielleicht selbst ungläubig den Kopf schütteln würden. Und es ist allerdings, zur Stunde wenigstens, nicht ganz leicht, für jeden Satz documentirte Belege beizubringen. Jene schlichten Meister im Schurzfell, welche mit ihren himmelanstrebenden Wunderbauten das ganze christliche Europa bevölkerten, sie haben ihre Systeme und Doctrinen mit Quaderschrift, nicht mit Dinte und Feder in die Jahrhunderte gezeichnet; die Regeln und Handgriffe aber vererbten sich in den Hütten von Mund zu Mund, und erst als die Kunst durch das Hereindrängen fremdartiger Elemente ihrem Verfalle entgegenging, legte man, den Untergang vorahnend und vielleicht auch das einstige Wiedererwachen vom Scheintode, das Eine oder Andere schriftiich in die Zunftladen nieder, deren Inhalt freilich, wenn sie nicht zufällig unbemerkt in irgend einem dunkeln Winkel sich bargen, von den nachfolgenden Geschlechtern in frevelhaftem Leichtsinne verschleudert wurde. Seit indessen die Aufmerksamkeit sich wieder mehr und mehr der Kunst des Mittelalters zugewandt hat, sind bald hier, bald dort Fragmente zum Vorschein gekommen, die sich allmälig zu einem Ganzen gestalten. Namentlich hat das deutsche Florenz, Nürnberg, wo die christlich-vaterländische Kunst am spätesten noch Blüthen und Früchte trieb, in einer Zunftlade einen kostbaren Schatz von Rissen und Urkunden uns bewahrt, welche schon für sich allein den mir obliegenden Beweis wenigstens annähernd zu führen geeignet sein möchten. Es ist unmöglich, hier näher ins Einzelne einzugehen; diejenigen, welche ein näheres Interesse an dem Gegenstande haben, erlaube ich mir auf das durch den Tod des Verfassers leider unterbrochene Werk von Hoffstadt „das gothische ABC“ betitelt, zu verweisen, welches jene Documente enthält und erläutert.[1] Ich selbst habe einen alten Druck aus dem Jahre 1486 „das Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit“, eine Anweisung, wie die Fialen (die spitzsäulenartigen Auslaufungen der Strebepfeiler), eine der eigenthümlichsten Bildungen des gothischen Styles, zu construiren sind, verfaßt von Mathias Roriczer, Dombaumeister zu Regensburg, in die heutige Mundart übertragen und mit einem Commentare versehen, herausgegeben, um die Aufmerksamkeit kundigerer, scharfsichtigerer Forscher aus die gewiß nicht undankbare Materie hinzulenken. Vor Allem aber darf man nicht vergessen, daß das Studium der mittelalterlichen Baukunst noch im Vorhofe weilt. Vieles, was man zur Zeit nur ahnend vorfühlen kann, wird einst klar

  1. Durch den Tod des Herrn Hoffstadt, sowie durch die Ereignisse der letzten Jahre ist dies Werk in Stocken gerathen. Herr Prof. Lange hatte es übernommen, das Werk zu vollenden, welches in bessere Händen nicht leicht gelegt werden könnte; der Verleger schein es aber vorzuziehen, seine Verpflichtung gegenüber den Käufern der ersten Lieferung unerfüllt zu lassen.
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August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_131.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)