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gezwungen werden musste, diese Feier verlangt zu haben, so ist sie gezwungen worden, einmal die Wahrheit zu sagen. Außerhalb Roms hat die Dankbarkeit gegen den Kaiser auch den Ausdruck gewählt, dass in ihm der Welt Heiland geboren wäre. Auch als drei Jahrhunderte später der Glaube an den Heiland siegte, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, haben die Besten nicht verkannt, daß die Geburt Christi nicht zufällig mit dem Weltfrieden des Augustus zusammenfiele. Und so werden wir, wenn wir die Geschichte verstehen, den Beginn unserer Zeitrechnung gern gelten lassen: nur dürfen wir nicht auf das Jahr genau rechnen, die Jahre +1 und –1 sind so leer wie kaum zwei andere in hellen Zeiten der Geschichte; aber die Säkularspiele von –17 und die zeitlich unbestimmbaren Daten der Geburt oder auch des Todes Jesu rücken aus der Entfernung gesehen auf denselben Punkt.

In der Nähe ist man auch für kleine Zeitabstände empfindlich, aber daß Ereignisse und nicht die Ziffern des Kalenders Epoche machen und ein Jahrhundert begrenzen, gerade in dem Sinne, in dem der Begriff einen Inhalt hat, das muss jeder sich klar machen können. Und dann weiß er auch, dass das 19. Jahrhundert nicht begonnen hat, als man eine 8 an der zweiten Stelle der Jahreszahl zu schreiben anfing, sondern am 14. Juli 1789, wie es das Gedächtnisfest des französischen Volkes abgrenzt, oder am 19. September 1792, als Wolfgang Goethe auf dem Felde von Valmy sagte, „von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus“. Nur ein Ereignis in der Geschichte des führenden Volkes kann den Markstein liefern, und wenn der Versuch der Revolution, die Zeitrechnung umzustürzen, auch mit vielen anderen Übertreibungen rasch beseitigt worden ist: das sehen wir heute nur deutlicher, dass der Zusammenbruch des alten französischen Staates in der That den Anstoss zu einer Umgestaltung der Gesellschaftsordnung überhaupt gegeben hat, die längst noch nicht abgeschlossen ist, und es lebt heut kein Einziger, der im Ernste auf das verzichten

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_156.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)