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Materie zu geben. Das bin ich auch den namenlosen proletarischen Opfern des Vierten Strafsenats schuldig, um die sich niemand außer den Parteifreunden gekümmert hat. Denn der Fall Weltbühne ist der einzige seit langem, der eklatant geworden ist und die Öffentlichkeit wirklich erregt hat. Die große Spinne von Leipzig soll einen Bissen zu viel geschluckt haben.

Damit beantworte ich zugleich eine Frage, die mich vom Abend des 23. November, wo ich auf dem Anhalter Bahnhof von einer Deputation journalistischer Ehrenjungfrauen empfangen wurde, bis heute in einigen hundert Briefen und Gesprächen bedrängt hat. Diese Frage heißt ganz simpel: „Mensch, warum türmst du nicht?“

Natürlich bestreite ich das Recht des Publizisten nicht, sich dem Zugriff der herrschenden Gewalten durch die Flucht zu entziehen. Ein Recht, das übrigens jeder unschuldig Verurteilte hat, dem der normale Weg zur Rehabilitation versperrt ist oder der den Glauben an die richterliche Objektivität verloren hat. Es handelt sich aber in jedem Einzelfalle darum, das Wirksamere zu tun. Das allein muß entscheidend bleiben.

Das Reichsgericht hat mich vorsorglich in unangenehmster Weise abgestempelt. Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse — das ist eine höchst diffamierende Etikette, mit der sich nicht leicht leben läßt. Geht man damit ins Ausland, so wird die gesamte Rechtspresse aufjubeln: Zum Feinde geflohen! Und manche von den Leichtschwankenden werden die Achseln zucken: es muß doch etwas an der Sache sein! Der Oppositionelle, der über die Grenze gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein. Der ausschließlich politische Publizist namentlich kann auf die Dauer nicht den Zusammenhang mit dem Ganzen entbehren, gegen das er kämpft, für das er kämpft, ohne in Exaltationen und Schiefheiten zu verfallen. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen.

Ich gehöre keiner Partei an — wohin also? Keine der Internationalen nimmt mich auf, stellt mich an einen neuen Platz. Es gibt draußen viele flotte Herren, die gern den Frieden hochleben lassen, wenn sie ihr neues Militärprogramm glücklich durchgedrückt haben, und die den deutschen Militarismus so verabscheuen, als wäre er der einzige in der Welt. Sollte der geflüchtete antimilitaristische Deutsche in ihrem Schatten gegen seine Generale und Bellizisten schreiben, das hieße seiner Arbeit einen falschen Akzent geben. Denn dann dient er gewollt oder ungewollt einem fremden Interesse, er wird eines der vielen Mundstücke fremder Propaganda. Er muß zu dem schweigen, was er sieht, um sich über das zu entrüsten, was er hinter sich gelassen hat und was mit der Zeit nicht nur den Augen sondern auch der Urteilskraft entrückt. Der politische Journalismus ist keine Lebensversicherung: das Risiko erst gibt seinen besten Antrieb.

Empfohlene Zitierweise:
Carl von Ossietzky: Rechenschaft. Berlin: Verlag der Weltbühne, 10. Mai 1932, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Rechenschaft_3.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)