Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils zweyte Abtheilung | |
|
Man setzte den höchsten Werth der Liebe in jene Spannung der Phantasie, in jene Beschäftigung, welche die Ueberwindung eines weiblichen Herzens und seiner Bedenklichkeiten hervorbringt. Daher rührt auch die Meinung, daß der körperliche Genuß die Liebe tödte, und daß der Stand des Liebhabers unendlich glücklicher sey, als der des Mannes. [1]
Bald mußte die Intrigue nach dem Geiste der Zeit eine gewisse regelmäßige Form, wenigstens in der Dichterwelt, erhalten. Es wurden die Regeln beym Angriff, bey der Vertheidigung, bey der Dauer des Verhältnisses festgesetzt; kurz! es entstand eine Art von Taktik der Liebe. Es ward sogar die Zeit festgesetzt, wie lange der Liebhaber harren dürfe, ehe er die letzte unnennbare Gunst zu fordern berechtigt sey. Sieben Jahre mußte er warten nach dem Beyspiele des Erzvaters Jakob, der sieben Jahre um Rahel gedient habe. Ließ ihn aber seine Dame alsdann unbelohnt, so durfte er brechen, und sich an eine andere wenden. [2] Unterdessen ward seine Treue, und besonders seine Verschwiegenheit auf die Probe gesetzt. Diese Lehren wurden zuweilen in sinnreichen Allegorien vorgetragen, und lange ehe Guillaume Loris seinen Roman von der Rose in Frankreich schrieb, [3] hatte Pierre Vidal eine Kunst zu lieben in einem sinnreichen Gespräche zwischen sich und dem Amor, in Begleitung der Dame Mercy, der Demoiselle
Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils zweyte Abtheilung. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1798, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ramdohr-Venus_Urania-Band_3.2.djvu/98&oldid=- (Version vom 1.8.2018)