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sie auch so leicht in den wahnsinnigen Zustand einer wirklichen Selbstverwandlung.

Sehr oft wird die heftigste Leidenschaft, die auf Schwärmerey beruht, bloß dadurch geendigt, daß sich die Personen, welche sie für einander empfinden, bis zur nähern persönlichen Bekanntschaft einander nahe kommen. Die Geschichte eines schönen Geistes unsrer Zeit, der mit einer Dame von großem Verstande und vieler geselligen Liebenswürdigkeit in Verbindung stand, ist oft erzählt. Sie glaubten sich einander zu lieben, ihre Verhältnisse aber gestatteten ihnen nicht, sich ohne lästige Zeugen zu sehen und zu sprechen. Das einzige Mittel, welches ihnen zum Austausch ihrer Gefühle übrig blieb, war der Briefwechsel. Wie oft war dieser mit Wünschen angefüllt, sich endlich einmahl einander ganz so darstellen zu können, wie sie wären, und der Last einer langsamen Ueberlieferung ihrer Empfindungen durch Schrift entledigt, durch Geberde und mündliche Unterredung ihre Herzen gegen einander zu ergießen. Er erschien, der längstgewünschte Tag! aber noch ehe er verstrichen war, fanden sich die Geliebten genöthigt, einen Schirm zwischen sich zu stellen, und an einander zu schreiben.

Welch einen Contrast macht diese Geschichte mit der zweyer Liebenden aus dem vorigen Jahrhunderte! Auf gleiche Weise durch Verhältnisse und Lagen vor den Augen der Welt getrennt, hatten sie heimlich in einem Gartenhause ein ganzes Jahr hindurch ihre Zusammenkünfte häufig wiederholt. Am Ende des Jahrs bemerkt der eine, daß die Aussicht schön sey. „Ich bin verloren, ruft der andere, du siehst etwas außer mir!“