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eintauschen für die Schätze, die Du mit Dir führst? Lebt König Wilhelm noch, so wird er sie gern einlösen von Dir, und der nordische König Reinmund wird keinen Preis zu hoch finden, um sein Kind wieder zu sehen. Giebt Dir die Hoffnung auf Gewinn nicht Lust zum Tausch? Doch wie Du willst, ich dränge ihn Dir nicht auf, und ob Du auch nicht einwilligst, wird doch mein Schutz Dir sicher sein wie zuvor.“

Der Gedanke an das reiche Gut, was ich hier zurücklassen sollte, machte mich in meinem Entschlusse wankend. Ich bat mir eine Nacht Bedenkzeit aus. In dieser Nacht stritten Verstand und Herz um die Oberhand in mir. Das Herz sagte: befreie die Armen! Der Verstand warnte: gieb nicht so reiches Gut um einen Wahn aus den Händen. Endlich schlief ich ein. Da erschien mir ein Engel mit lichten Zügen im Traum.

Erwache, Gerhard! rief er zürnend mir zu. Hast Du vergessen das Wort Deines Heilandes: was Ihr den Ärmsten thut, das habt Ihr mir gethan? Ist des Herzens Mahnen bei Dir so ganz umsonst? Und wird Gott nicht hier wie dort Dir Dein Erbarmen lohnen? Alsbald verschwand mir der Engel. Voll Scham über mein langes Zweifeln wachte ich auf und dankte Gott, daß er mich davon befreite. Mein Entschluß war rasch gefaßt, und als der Schreiber kam, um mir die Messe zu lesen, sprach er den Segen zu meinem Vorhaben. Getröstet ging ich aus. Da kam mir der Burgvogt schon entgegen. „Nun, hast Du’s bedacht?“ fragte er. „Ja, Herr“, war meine Antwort, „laß die Gefangenen ohne Fesseln vor mir erscheinen; willigen sie dann ein, mit mir zu gehen, so sind die Schätze meines Schiffes Euer Eigentum.“ „Ich vertraue Dir, wie sonst keinem“, entgegnete er, „so mag es drum sein, daß ihre Fesseln schon jetzt gelöst werden.“

O, jetzt hättet Ihr die Freude sehen sollen, als die Armen nach mehr als einem Jahre ohne Fesseln frei einander wiedersahen! Heiße Thränen entrannen stromweis ihren Augen. Sie lagen einander in den Armen und dankten Gott, der einen Christen zu ihrer Rettung in dies ferne Land gesandt hatte. Als sie hörten, um welchen Preis ich ihnen Errettung brachte, fielen sie mir zu Füßen und gelobten laut, mir alles reichlich zu bezahlen, wenn sie die Heimat wiedersähen. Mehr noch als alles dies ging mir der Anblick der jungen schönen Königin Irene, so hieß sie, zu Herzen.

Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/236&oldid=- (Version vom 1.8.2018)