Seite:Proehle Kinder- und Volksmaerchen 145.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Streiche. Er begab sich sofort in die Königsstadt und da ging er geradeswegs nach der Schatzkammer. Diese sprang denn auch vor seiner Springwurzel sogleich auf und schloß sich wieder hinter ihm zu, und weil ihn wegen seines Mantels Niemand sah, so bemerkte es nicht einmal die Wache vor der Schatzkammer, daß sich die Thür aufthat. Und so holte der Student am hellen Mittage so viel Geld aus der Schatzkammer, als er nur tragen konnte, und er ging von nun an Tag für Tag dahin, um sich die Taschen zu füllen. So lebte er als ein gar großer Herr in der Residenz, und wenn er den Mantel nicht um hatte, so erschien er gar prächtig gekleidet. Oft aber ging er in seinem Mantel unsichtbar am hellen Tage über die Straße, und dann sah er den Frauen so kühn und keck ins Gesicht, daß ihn die Männer gewiß vor Eifersucht erschlagen haben würden, wenn sie es gewußt hätten. Aber daran war's ihm noch nicht genug. Er schlich sich auch einmal zu dem Könige in seinem Mantel, und dem stahl er Krone und Seitengewehr, ohne daß er es merkte, denn er sah ja Niemand neben sich.

Das war dem König natürlich nicht einerlei, er berieth sich insgeheim mit seinen Ministern, und nach ihrem Vorschlage berief er nach der Sitzung die Prinzessin zu sich und sprach zu ihr also: „Mein Kind, wir wollen ein großes Fest veranstalten und dazu alle Welt einladen. Wer dann am Abende, wenn Alle in unserm Garten lustwandeln, an dich herantritt und dir einen Kuß gibt, dem mache so leise als möglich mit Kohle einen Strich ins Gesicht, denn der ist der Kühnste von Allen, die zu dem Feste kommen, und der hat ganz gewiß auch meine Krone und mein Seitengewehr geraubt - ein Anderer hätte sich's nicht unterstanden. So komme ich wieder zu Krone und Seitengewehr, welche ich auf jeden Fall wieder haben muß, und du kommst zu einem Kusse, den ich dir sonst nicht eher gestatte, als bis zu deiner

Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Pröhle: Kinder- und Volksmärchen. Leipzig 1853, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Kinder-_und_Volksmaerchen_145.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)