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sich nur mit äußerster Langsamkeit zerstreuen, welche für die uns zur Verfügung stehenden Instrumente völlig unabschätzbar ist. Immerhin zerstreut sie sich, und nach einer Zahl von Jahren, die nach Milliarden und abermals Milliarden zu schätzen ist, werden alle Planeten auf die Sonne stürzen, wenn sie nicht schon seit langem dahin gefallen sind infolge anderer Ursachen, wie etwa der Existenz eines widerstehenden Mittels.

Fassen wir alles zusammen, so können wir sagen: Die Schlußfolgerungen, welche die „Neue Mechanik“ macht, können noch nicht als endgültig begründet gelten. Das wird noch gute Weile haben. Aber diese Folgerungen verdienen es bereits, daß ihnen eine ernste Prüfung von seiten der Gelehrten und Philosophen zuteil wird.

Es drängt sich noch folgender Gedanke auf: Die Gesetze der Mechanik sind zum größten Teil konventionell. Darum ist „Kraft“ ein „Etwas“, was uns die Erfahrung nicht direkt fassen lehrt. Was die Erfahrung uns lehrt, ist, daß unter dem oder dem Umstande der oder der Körper die oder die Bewegung annimmt. Aber diesen Satz, welchen wir aus der Erfahrung entnehmen, behalten wir als solchen nicht bei, sondern zerlegen ihn in zwei andere. Wir sagen: 1. unter den und den Umständen entsteht die und die Kraft, 2. bei Anwesenheit der und der Kraft nimmt der und der Körper die und die Bewegung an. Das erste dieser Gesetze nennen wir ein physikalisches Gesetz, das zweite ein mechanisches. Wir haben also künstlich einen vermittelnden Faktor eingeführt, der eine Erfindung unseres Intellekts ist, und den wir „Kraft“ genannt haben. Diesen Faktor hätten wir in verschiedener Weise ausdenken können, und dann hätte sich auch die Zerlegung der Erfahrungstatsache in ein physikalisches und in ein mechanisches Gesetz verschieden gestaltet. Die Gesetze der Mechanik sind also in etwas willkürlich, und wir wählen sie so bequem wie möglich. Die alten Gesetze der Mechanik, die viel einfacher als die neueren sind, sind lange Zeit die bequemsten gewesen. Angesichts der neuen Tatsachen und insbesondere mit Rücksicht auf das Prinzip der Relativität hätten wir sie beibehalten können. Der andere Teil unseres Satzes, nämlich das physikalische Gesetz, würde dann aber eine unzulässige Komplikation annehmen, und aus diesen Gründen kann man die Gesetze der neuen Mechanik für bequemer halten, wenn sie auch weniger einfach sind als die der alten Mechanik. Man kann im eigentlichen Sinne nicht sagen, daß sie einen höheren Grad von Wahrheit besitzen. Indessen halten wir fest, daß bei den gewöhnlichen Anwendungen, bei denen man es mit mäßigen Geschwindigkeiten zu tun hat, die alten mechanischen Gesetze immer die bequemeren bleiben werden. Man soll daher die alten Gesetze nicht schlecht machen, man soll sie vielmehr weiter lehren, wenn nicht ausschließlich, so wenigstens neben den neuen Gesetzen.


Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)