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romanische und maurische Formen. Bei dem Cholerabrunnen scheute er sogar nicht vor der Gotik zurück. Aber das waren doch mehr Zugeständnisse. Sein innerstes Empfinden war der italienischen Renaissance zugewandt, wie ja auch seine ganze Ausbildung in Frankreich bei Gau sowie in Italien auf ihr beruhte. Er schrieb der Renaissancekunst eine großartige Überlegenheit zu, welche sie über alles vorher Dagewesene mit Einschluß der höchsten Kunst der Griechen stelle. Die Renaissance hatte seiner Ansicht nach nicht das Ziel, sondern wohl erst kaum die Hälfte ihrer Entwickelungsbahn erreicht, auf der sie, durch die Ungunst des modernen Zeitgeistes von ihrer makrokosmischen Schwesterkunst der Musik überholt und in trostloser Entfernung zurückgelassen wurde.

In diesem Sinne fühlte sich Semper nicht als Nachahmer der großen Künstler der Renaissance, sondern als Weiterführer ihrer künstlerischen Grundsätze, als einer der großen Einzelnen, deren Werk die Geschichte ist, als einer der großen Neugestalter der Gesellschaft, die zugleich als die bewußten, nicht zufälligen Stilgründer auftreten. Mögen wir darüber denken wie wir wollen, für Dresden war Semper jedenfalls der Neugestalter der Baukunst, die siebzig Jahre lang nichts Bedeutendes mehr hervorgebracht hatte.

Lipsius weist darauf hin, daß sich für jeden einzelnen von Sempers Bauten das bauliche Motiv nachweisen lasse, worin er den ihm jeweilig vorschwebenden Charakter vorgedeutet fand. So gab für das Oppenheimsche Palais der Palast Pandolfini zu Florenz, für die Zwingerseite des Museums Sansovinos Bibliothek zu Venedig, für die Platzseite desselben Gebäudes eine römische Anordnung ein wesentliches Motiv. Semper aber verstand, es so umzuarbeiten und seinem Zwecke dienstbar zu machen, daß es nicht als ein dazu geborgtes Fremdes, sondern als ein eigener zugehöriger Teil seiner baulichen Erfindung, als ein durch Neuschöpfung wohlerworbenes Eigentum erscheint. Lipsius weist endlich noch darauf hin, daß auch das örtliche Gepräge der Alt-Dresdner Architektur in Sempers Bauten nachweisbar sei: die Behandlung der Rustika und der Rustikasäulenportale im Parterre des abgebrannten Hoftheaters sowohl wie des Oppenheimschen Palais z. B. ähnelt sehr, nur in eleganterer Durchbildung derjenigen der prächtigen, von Kraft und Fülle strotzenden Portale des königlichen Schlosses.

Empfohlene Zitierweise:
Paul Schumann (1855-1927): Dresden. Berühmte Kunststätten, Band 46, 1. Auflage. E.A. Seemann, Leipzig 1909, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Paul_Schumann_-_Dresden.pdf/250&oldid=- (Version vom 3.3.2023)