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Prachtbauten der Altstadt, jenseits auf den stolzen Japanischen Palast. Wenn ich dann an diesem vorüberkam, dachte ich manchmal mit stillem Verlangen an die ungeheuren Bücherschätze, die darin aufgestapelt sein mochten, mir jedoch ver­schlossen waren. Zwar lud die Aufschrift des Gebäudes Museum usui publico patens jedermann zum Zutritt ein, ich wurde aber zu diesem Publikum noch nicht gerechnet. Nur die große Vorhalle durfte ich betreten, wo in feierlichen Reihen die Marmorbüsten der römischen Kaiser standen, ein Stück steingewordener Weltgeschichte. Wenn ich geahnt hätte, daß ich dereinst selbst die Schlüssel zu diesen geweihten Räumen in der Tasche tragen würde! In die Königstraße einbiegend war ich stets verwundert, in welchem Mißverhältnis die niedrigen Häuserfluchten zu der ansehnlichen Straßenbreite standen; konnte ich doch nicht wissen, daß der Schöpfer der Neustadt, August der Starke, eine solche Bauweise angeordnet hatte, damit sein quer vor die Straße gesetzter Palast um so beherr­schender wirkte.

Auf diesem Platze hatte ich im November 1872 ein hübsches Erlebnis. Kaiser Wilhelm I. weilte zur Feier der goldenen Hochzeit des sächsischen Königspaares in Dresden. Die edle Persönlichkeit des greisen Fürsten hatte auch das Herz meiner Mutter so völlig gewonnen, daß sie sich – zum ersten Male in ihrem Leben – entschloß, nach der Hauptstadt zu kommen, um ihn zu sehen. Wir stellten uns an einer menschen­leeren Stelle vor dem Japanischen Palast auf, wo er vorbei­fahren sollte. Er kam, unsre kleine Gruppe grüßte und er dankte mit besonderer Aufmerksamkeit. Man mußte die Freude der guten Mutter sehen, daß ihr, der einfachen Arbeiterfrau, ihr Kaiser so freundlich zugenickt hatte!

Nach Hause ging ich aus der Schule nicht denselben Weg zurück. Der Friedrichstädter wie der Neustädter lebte in beinahe kleinstädtischen Verhältnissen und fühlte sich mit mag­netischer Kraft zu der geschäfts- und verkehrsreicheren Altstadt

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/40&oldid=- (Version vom 4.6.2024)