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Unter seinem erkältenden Einflusse versank mein kirchlicher Sinn in einen langen Winterschlaf. Aber die Rätsel des Daseins in Zeit und Ewigkeit haben mich auf einsamen Spaziergängen immer beschäftigt, ohne mich gerade in Seelenkämpfe und innere Erschütterungen zu stürzen. Was ich mir in ruhigem Nachsinnen unklar zusammenreimte, mag ungefähr dem Pantheismus Fichtes entsprochen haben:

„Das Ewige Eine lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen. Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn Leben.“

Zu einer gefestigten Weltanschauung gelangte ich als junger Mensch natürlich noch nicht, jede Lehre, die ich kennenlernte, wirkte gestaltend auf mein für neue Eindrücke empfäng­liches Gemüt. Ich nahm das Gute, wo ich es gefunden zu haben glaubte, in mich auf und strebte vor allem nach dem, was das Leben von mir zu fordern schien: durch Arbeit mein schwaches Ich zu vervollkommnen. Erst nach vielen Jahren habe ich die Folgen jenes seelenlosen Religionsunterrichts völlig überwunden und aus überzeugender Lebenserfahrung heraus die Segnungen der Kirche würdigen gelernt.


Auf dem Schulwege.

Zur Schule wanderte ich täglich über die Marienbrücke und konnte auf dem unten fließenden Strome Grüße nach der Vaterstadt gelangen lassen. Die Brücke, die auch der Eisen­bahn diente, war eine Altersgenossin von mir, trotzdem gefiel sie mir nicht, denn man bewegte sich auf ihrem Rücken fort­während zwischen Zügen von Lastwagen und Wagen von Lastzügen, die in ohrenbetäubendem Gerassel einander begegneten. Eine Entschädigung für diese Unruhe bot aber die freie Aussicht, diesseits der Elbe auf die wuchtige Augustusbrücke, die gewaltige Kuppel der Frauenkirche und die Türme und

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/39&oldid=- (Version vom 24.5.2024)