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Holzgebäude. Hier habe ich, im Stehparkett an die Rückwand angelegt – die standesgemäße Galerie war kein günstiger Platz für Kurzsichtige – gar manchen Abend im andächtigen Genießen klassischer Dramen verbracht und von den Leistungen hervorragender Künstler – eines Friedrich Dettmer, einer Marie Bayer, einer Pauline Ulrich und als Gast einer Clara Ziegler – unvergeßliche Eindrücke in mich aufgenommen. Auch die große Oper zog mich oft in ihren Zauberbereich, aber Spielopern und Lustspiele besuchte ich als sparsamer Mann nur selten, sie gaben mir für mein Geld nicht genug zu sehen und zu hören, und da ich mich in meiner Lage glücklich fühlte, war auch mein Erheiterungsbedürfnis nicht groß. Regnerische Sonntage gehörten, soweit nicht die Arbeit sie in Anspruch nahm, den reichen Kunstsammlungen der Stadt, besonders der Gemäldegalerie. Ich kann aber nicht sagen, daß ich, jeder Anleitung entbehrend, ihre Schätze mit dem rechten Verständnis genossen hätte. Zwar stand ich einem so erhabenen Werke wie Raphaels Sixtinischer Ma­donna, das mir schon in der brüderlichen Werkstatt aus Kupfer­stichen vertraut geworden war, mit der gebührenden Andacht gegenüber, und vertiefte mich mit Hochgenuß in die lebenswahren Schilderungen der alten Holländer, jedoch auch eine theatra­lische Darstellung wie Hübners Disputation Luthers mit Eck flößte mir gewaltige Achtung ein, und dies lediglich um ihres bedeutenden geschichtlichen Gegenstandes willen.

Und wie stand es Sonntags mit der Kirche? Ich hatte schon zeitig dazu geneigt, mir draußen in der heiligen Stille des Waldes mein Gotteshaus selbst zu bauen. Einer Reli­gionslehre, die für die Sagen und Geschichtsbücher des alttestamentlichen Judentums im Seelenschrein des deutschen Christenmenschen den besten Platz beanspruchte, stand ich an sich schon kühl gegenüber. Nun brachte es unser Religionslehrer mit seinem öden, gedächtnismäßigen Buchstabenkram fertig, mich mehr und mehr in freigeisterischen Widerspruch hineinzutreiben.

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/38&oldid=- (Version vom 24.5.2024)