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Höhe stand. Schon in der Tanzstunde hatte mir der Walzer nicht recht in den Kopf oder vielmehr in die Beine gewollt. Als ich in der mir übertragenen Dankrede zur Schlußfeier des Unterrichts die anmutspendende Muse der Tanzkunst bei den alten Griechen als unsre Schutzgöttin in Anspruch nahm, wäre es nicht zu verwundern gewesen, wenn die schöne Terpsichore mich wegen öffentlicher Beleidigung verklagt hätte. Vielleicht wirkte in mir noch das Vorbild nach, das mir in meiner Kind­heit die Tanzgesellschaften der herumziehenden Bärenführer geboten hatten. Wenn man nun auch auf Bällen nicht gerade an der Kette und mit einem Ringe durch die Nase auftrat, so ward mir doch schon jede andere, noch so zarte gesellschaftliche Fessel leicht lästig. Als Schüler bin ich ein einziges Mal zu einem Tee- und Tanzabend eingeladen gewesen, und zwar bei den Eltern meines Freundes Sorge. Das war ein Ereignis ersten Ranges in meinem Jünglingsdasein. Zuvörderst mußte ich der freundlichen Frau Oberbaurat meinen Besuch machen, um ihr die richtige Einschätzung meiner Beine und Eßwerkzeuge zu verschaffen. Wie der Einsiedlerkrebs, der mit dem Hinterleibe im leeren Schneckenhause sitzt, erschien ich am Fest­abend im fremden Gehäuse: das Gewand, das meine oberen Glieder umhüllte, hatte mir ein Schneider und Frackverleiher auf der Wilsdruffer Straße anvertraut. Ich hielt mich, wie auch bei späteren Gelegenheiten, mit Vorliebe an die im Alter schon vorgeschrittenen Mädchen, weil ich mit diesen am ehesten eine leidlich vernünftige Unterhaltung zustande bringen und überdies hoffen konnte, daß sie sich auch mit einem minder be­gnadeten Tanzkünstler zufriedengeben würden.

Von geistigen Genüssen habe ich mir nicht leicht etwas entgehen lassen, was mit meinen schwachen Mitteln erreichbar war. Als ich nach Dresden kam, sah ich noch die Trümmer des abgebrannten Semperschen Theaters rauchen. Statt dieses prächtigen Bauwerks erstand sehr bald als „Interimstheater“ ein anheimelnd einfaches und im Innern übersicht­liches

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/37&oldid=- (Version vom 24.5.2024)