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seiner Heimat auftretender Prophet, der die baldige Wieder­kunft Christi verkündigte, ein Bote Gottes sei. So habe ich damals die in meiner Kindheit gehörten Reden von „ver­rückten Engländern" durch lebende Beispiele einigermaßen bestätigt gefunden.

Noch tiefer als einst in Gohrisch wurde ich in die Geheim­nisse einer üppigen Lebensführung eingeweiht, als mich ein Schulkamerad, der Sohn eines reichen Kaufmanns in Freiberg, zu seinen Eltern in die Weihnachtsferien eingeladen hatte. Seit dieser von leiblichen Genüssen strotzenden Woche waren Sekt und Austern für mich keine inhaltlosen Begriffe mehr, aber ein Verlangen nach ihnen blieb bei mir nicht zurück.

Im geselligen Verkehr vermochte mich nur lebendiger Meinungsaustausch zu fesseln, den üblichen Unterhaltungsspielen, besonders mit Karten, gewann ich keinen Reiz ab und hielt mich hartnäckig davon fern. So habe ich nie einen Pfennig Geld verspielt. Ebensowenig liebte ich für geistige Getränke viel aufzuwenden. Mitunter nur genoß ich gern ein Glas kräftigen Kulmbacher Bieres, und zwar möglichst allein, um damit die aufkeimenden Gedanken für die deutschen Aufsätze zu begießen. Zu diesem Zwecke besuchte ich in der Dämmerstunde die Rennersche Wirtschaft in der Großen Brüdergasse und saß dort, wenn kein Wandtischchen frei war, still mit an dem großen Mitteltische, wo der berühmte Sänger Anton Mitterwurzer sein Dutzend Schoppen, die er zur Ver­meidung unliebsamer Schlußabrechnung alle einzeln aus der Westentasche bezahlte, in seinen mächtigen Leib goß.

Daß Renners Großmutter, eine geborene Segadin, von Schiller als „Gustel aus Blasewitz“ zur Unsterblichkeit er­hoben worden war, gab der Örtlichkeit in meinen Augen eine höhere Weihe und begeisterte mich bisweilen zu dem Ent­schlusse, mir noch ein zweites Glas kommen zu lassen.

Auch das Tanzen war nicht meine Leidenschaft. Das lag wohl mit daran, daß ich in dieser edlen Kunst nicht ganz auf der

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/36&oldid=- (Version vom 28.6.2024)