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derselbe, der im Rate der Stadt, als man über die Frage be­riet, ob das Marmorstandbild der Germania auf dem Alt­markt im Winter mit einem Schutzdache versehen werden solle, den nicht bloß für seine Zeit zutreffenden Ausspruch tat: Was nützt mir die Germania, wenn sie zugedeckt ist!

Mein Lehrer der englischen Sprache, der freundliche und gesprächige Dr. Peschel, der viel Beziehungen zur angel­sächsischen Rasse hatte, empfahl mich einer jungen Witwe aus Neuyork, als sie ihrem Jüngsten in den großen Ferien einige Wiederholungsstunden geben lassen wollte, damit er die soeben mühsam erworbenen Anfänge des Lateinischen nicht wieder verschwitze. Ich zog mit der Familie auf vier Wochen in die Sommerfrische nach Gohrisch bei Königstein. War das eine Herrlichkeit! Luftige Wohnung in „Annas Hof“, glänzende Verpflegung, Herumstreifen in der schönen Gebirgsnatur der Sächsischen Schweiz und dabei täglich nur zwei Stunden Unterricht! Aus den Gesprächen an der Wirtstafel lernte ich mir manchen Vers von den Anschauungen fremder Völker zusammenreimen, denn es waren Gäste von weither, darunter eine holländische Pflanzerfamilie zugegen. Die Kosten der Unterhaltung bestritt aber hauptsächlich ein be­redter Berliner Polizeidirektor, der uns in alle Geheimnisse der ihm anvertrauten Verbrecherwelt einweihte. Zum Über­maß der Wonne trat mir das amo amas amat, das ich mit dem kleinen George buchstäblich behandelte, auch lebendig über­wältigend nahe: ich verliebte mich sterblich in die zarte, fein­gebildete Amerikanerin. Was ich ihr nur an den Augen ab­sehen konnte, tat ich – und ich sah ihr viel in die Augen! Es hätte nicht des Veilchengeruchs ihrer gestickten Taschentücher bedurft, um mich jedesmal, wenn ich in ihre Nähe kam, in einen sinnbestrickenden Zauberduft einzuhüllen. Da mußte ich es eines Abends erleben, daß die Angebetete am Arme ihres Dresdner Arztes den Berg heraufgestiegen kam. Es gab mir einen Stich ins Herz, meine Augen umflorten sich,

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/34&oldid=- (Version vom 28.6.2024)