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Unsre Kammer mit ihrer Aussicht in den schmalen dunklen Hof und auf eine schwarze Giebelwand, die auf Auge und Sinn wenig ablenkende Reize ausübte, war schon zeitig am Morgen eine Stätte des Fleißes, und wenn abends die nerven­stärkenden Hammerschläge in der daruntergelegenen Schlosserei schwiegen, kam die Arbeit aufs neue in Fluß und dauerte oft bis Mitternacht. Den köstlichen Morgentrank bereitete uns die Wirtin, ein wohlschmeckendes Abendessen, meist Brot, Butter und Käse, bisweilen umflossen vom Saft einer sauren Gurke, besorgten wir uns selbst. Mein Nebenmann, ein wahrer Ausbund notgedrungener Sparsamkeit, begnügte sich mittags oft mit Kaffee und Butterbrot, ich nahm meine Mahlzeit anspruchsvoll unter Arbeitern und Handwerksgesellen in einer Wirtschaft auf der Kleinen Brüdergasse ein. Von einer Schüssel Schweinsknochen mit Klößen oder ge­bratenem Kuheuter mit Kartoffelsalat und ähnlichen leckeren Gerichten, wie sie dort, nicht weit entfernt von der königlichen Tafel, für 50 Pfennige aufgetischt wurden, konnte man sich tüchtig sättigen; die gesunde Eßlust der Tischgenossen ermunterte mich auch bei minder lukullischen Speisen, wie Mohrrüben oder „Gamaschenknöpfen“, zu tapferem Einhauen. Hier war ich auf dem besten Wege zu einem gemäßigten Genußmenschen­tum. Als der genügsame Kamerad nach zwei Jahren die Schule verließ, siedelte ich in seine Bettstelle über. Aus der luftigen Bodenkammer, wo der Schneesturm mitunter zwischen den Dachziegeln hindurch ein kühlendes weißes Pulver ausstreute und der Frost das Waschbecken in eine kleine Schlitt­schuhbahn für Mäuse verwandelte, brachte ich einen hart­näckigen Rheumatismus mit, der mich fortan hinderte, am Turn­unterricht teilzunehmen. Mir war das gar nicht unlieb, denn ich glaubte törichterweise die Zeit besser anwenden zu können und lebte ohnehin mit dem Turnlehrer, der durch seine Eitelkeit die meine stark verletzt hatte, auf gespanntem Fuße. Nach vergeblicher Anwendung von Dampfbädern brachte erst ein anhaltend heißer

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/31&oldid=- (Version vom 27.6.2024)