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Das vermochten auch so gutherzige Jünglinge wie wir, die jedem Tierchen ein anständiges Vergnügen gönnten, auf die Dauer nicht zu ertragen. Wir brachten unsre zer­stochenen Märtyrerleiber vor die Besitzerin des teuflischen Insektariums und forderten dessen Räumung. Aber sie konnte sich, wohl aus alter Vorliebe – ihr seliger Vater war ein bekannter Entomolog gewesen – nicht dazu entschließen. Was kümmerte die fromme Frau auch Leib und Blut, ihr war es um das Heil unsrer Seele zu tun.

Da blieb uns nichts andres übrig als die Flucht. Ein älterer Schulkamerad lud mich ein, zu ihm nach der Friedrich­stadt zu ziehen, jenem bevorzugten Stadtteile, wo Ludwig Richters Wiege gestanden, aber auch der Bilderhändler Rehhahn und mancher schwarzgefärbte Wilde von der Vogel­wiese seine Heimat hatte. Er bewohnte auf der Weißeritz­straße bei einer Nadelarbeitslehrerin ein Stübchen hinten heraus. In diesem niedlichen, durch ein eisernes Kanonenöfchen heizbaren Gelaß hatten außer dem Bett gerade noch ein mäßig großer Tisch am Fenster und zwei Stühle Platz. Der Kamerad wollte mir bereitwillig den einen Stuhl nebst einer Tischecke und etwas Anteil an der Beleuchtung abtreten, während ich mein Bett oben in einer Dachkammer aufschlagen sollte, wo erwünschte Gelegenheit war, sich beizeiten an eine selbständige hohe Stellung zu gewöhnen. Die Wirtin ging verständnisvoll auf unsre Pläne ein, die nicht so sehr auf Wohlleben als auf Billigkeit abzielten, und so hielt ich, befreit von aller Qual, einen frohen Einzug in das neue Heim. Mein Stubengenosse – wenn ich bei meinem kleinen Anteil an seinem Stübchen einen so hochtrabenden Namen gebrauchen darf – war gut­mütig und verträglich, hatte aber viel Anlage zum Sonder­ling, so daß es trotz engster Berührung zu einem Freundschafts­bunde zwischen uns nicht kommen konnte. Er hat es später bis zum Postdirektor gebracht, aber schließlich im Irrsinn ein trauriges Ende gefunden.

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/30&oldid=- (Version vom 27.6.2024)