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sonst aber war ihm, außer einer treuen Schwester, wenig Genuß des Schicksals beschieden. Während meines letzten Schuljahres diente er als Einjähriger bei den Leibgrenadieren. Seine zarte Natur zeigte sich den Anstrengungen des Waffenhandwerks nicht gewachsen, trotzdem wurde er bei der Unerbittlichkeit des militärischen Zwanges nicht eher entlassen, als bis er schweren Schaden an der Gesundheit genommen hatte. Er litt an stets zunehmender Lähmung der Glieder und ist nach leidensvollen Jahrzehnten als Ingenieur in Leipzig gestorben.

Zunächst aber hing uns beiden der Himmel voller Geigen. Das Fenster unserer Schlafkammer eröffnete die Aussicht auf eine Gärtnerei. Hier standen wir an klaren Herbstabenden, schwelgten in der Schönheit der Sternenwelt und schwärmten in Zukunftshoffnungen auf eine Milchstraße des Lebens. Eine junge Gärtnerin suchte unsere Aufmerksamkeit durch lockenden Gesang auf sich zu lenken, aber wir ließen uns auf solche nicht unbedingt zu unserer Ausbildung gehörige Bezie­hungen nicht ein, zumal da wir nicht feststellen konnten, wem von uns beiden die Sirenenklänge galten. Während des Winters verschlossen wir unsre Gefühle abgekühlt im Innern und schliefen nach Erledigung der Schularbeiten den Schlaf der Gerechten. Aber als der Frühling kam – wehe! Da ent­faltete sich nachts in der Kammer eine unheimliche Geschäftig­keit. Kleine braune Teufelchen aus der verrufenen Familie cimex lectularius tauchten erst vereinzelt, dann in immer wachsender Zahl aus Türpfosten und Ritzen auf, kletterten an den Wänden empor, ließen sich in kühnem Schwunge von der Decke auf die Betten herabfallen, krochen blutsaugerisch zu uns in die Kissen und schufen uns in lauen Nächten die Qualen der Hölle. Frühmorgens sah man sie wie eine Flotte brauner Ruderboote im Waschbecken herumgondeln und selbst in der Wohnstube hielten sie auf den Sophakissen ihre Turnübungen ab, um unversehens auf den Menschen überzuspringen.

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/29&oldid=- (Version vom 26.6.2024)