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Tisch- und Bettgeheimnisse.

Es war mir nicht schwer gefallen, mich in Dresden einzugewöhnen. Meine Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse hatten sich hier auch nicht üppiger gestaltet als daheim bei den Eltern. Auf ein Zeitungsangebot hin war ich zu einer Lehrerswitwe auf der Alaungasse gezogen, einer sehr gefühl­vollen und zartbesaiteten Frau, die viel auf guten Ton hielt: für ein freies, naturwüchsiges Wort konnte man bei ihr leicht einen wahrhaft vernichtenden Blick ernten. Die Bedauerns­werte befand sich in ewiger Geldklemme: ihr einziger, von ihr sehr bewunderter Sohn, ein junger Eisenbahningenieur, lag ihr immer schwer auf der Tasche und kränkte sie obendrein oft bei Tische durch Vorwürfe über die dürftige Kost. Er fühlte sich berufen, an der Erziehung der mütterlichen Pfleglinge tatkräftig mitzuwirken. Mir hat er dabei wenigstens insofern genützt, als er manche Erfahrungen seines Lebenswandels mir zugute kommen ließ und sich somit unbewußt als warnendes Beispiel darbot. Wenn der selbstgefällige Herr uns den rechten Begriff von seiner angesehenen Stellung geben wollte, ließ er sich Sonntag vormittags frisieren und den Schnurrbart wichsen, zog seinen besten Dienstrock nebst weißen Handschuhen an und ging, von den verwundert aus ihren Häuschen heraus­tretenden Bahnwärtern ehrerbietig gegrüßt, mit uns auf den Bahndämmen spazieren, offenbar in der Meinung, daß wir das sonst jedermann streng verbotene Stolpern über die Schwellen als hohe Vergünstigung zu schätzen wissen würden.

Die Wohnung teilte mit mir ein Schulkamerad aus der nächsthöheren Klasse, Richard Hänsel, ein strebsamer und liebenswerter Mensch, der mir sehr bald Herzensfreund wurde. Nach dem frühen Tode seines Vaters, eines Postverwalters in Dohna, hatte er das Glück, die Mittel zu seiner Weiter­bildung von meinem Bruder August vorgestreckt zu erhalten,

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/28&oldid=- (Version vom 26.6.2024)