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der Durst nach Erkenntnis erwies sich bei ihm nicht als der­jenige, der sich am unwiderstehlichsten geltend machte. Als bei seinem Vortrage der damals noch neuen Atomlehre einer der Schüler bemerkte, die Sache sei ihm nicht verständlich, gab er lachend zu, daß er sie selber nicht verstehe! Wieder­holt gelang es einigen dreisten Burschen, ihn von der Not­wendigkeit zu überzeugen, statt des Unterrichts die Auffüllung des Sauerstoffvorrats zu betreiben. Während dann der Braunstein in der Retorte dampfte, erledigten wir die rück­ständigen Schularbeiten und er den versäumten Nachtschlaf. Das waren die einzigen Stunden, wo im Chemiezimmer tadellose Ruhe herrschte. Unter solchen erschwerenden Um­ständen waren seine Lehrerfolge nur bescheiden. Trotzdem gab er mir die Zensur I, wohl weil er sie als die für den Primus passendste ansah. Oder sollte mir vielleicht im Meißner Porzellanlaboratorium etwas von der Geheimkunst Böttgers angeflogen sein?

Bei Prüfungen und Festfeiern ist es mir mehr als einmal vergönnt gewesen, auf dem hohen Rednerpult der Aula in deutschem, französischem oder englischem Vortrag mein Lichtstümpfchen leuchten zu lassen. Es war mir ein erhebendes Gefühl, vor vielen Mitmenschen über irgendeinen wichtigen Fall der Weltgeschichte von oben herab urteilen zu können. Ohne Herzklopfen ging es bei diesem ersten Auftreten in zahlreicher Versammlung natürlich nicht ab, es war aber doch bei weitem nicht so stark, wie dazumal im engsten Kreise bei meiner Liebeserklärung an die schöne Mit­schülerin in der Meißner Selekta. Der Saal erschien nicht groß und auch für Redner, die an Lampenfieber litten, bei­nahe anheimelnd. Seit der Übersiedelung der Dreikönig­schule in ein neues Gebäude dient er als Trauzimmer des Standesamts; da mag manchem angehenden Eheherrn vor den ihn erwartenden Prüfungen bänglicher zumute sein als je einem Schülerherzen.

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/27&oldid=- (Version vom 26.6.2024)