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von der Vogelweide die Worte zu machen: Ich saz uf eime steine und dahte bein mit beine usw., indem er feierlich langsam die Beine übereinanderschlug und das ausdrucksvolle Gesicht mit dem glattrasierten Kinn auf die Hand stützte! Meine hingebende Anteilnahme an dem deutschen Unterricht belohnte er, abgesehen von einer ungewöhnlichen, mich hoch ehrenden Sonntagseinladung zu Kalbsbraten und Kartoffelsalat, mit einer Buchprämie in Gestalt des Nibelungenliedes in der Ursprache, das mit seinen auf schweren Füßen wuchtig einher­schreitenden Versen den Sinn für deutsches Heldentum mächtig in mir anregte. Das bevorzugte Vorbild für die Pflege des Stils war ihm Lessing, der Schutzheilige der Schule, der mir dadurch besonders nahe gebracht wurde. Des Rektors Er­läuterung der Emilia Galotti wußte uns Form, Personen und Handlung des Dramas ungleich lebendiger machen, als dies der französische und englische Unterricht beim Lesen von Racines Athalie und Shakespeares Julius Cäsar vermochte.

Vortrefflich war die Mathematik und Physik durch den ernsten schwarzbärtigen Dr. Bothe vertreten, der ungemein gewandt vorzutragen, die schwierigsten Aufgaben spielend zu lösen und aus freier Hand tadellose Kreise auf der Wandtafel zu ziehen verstand. Seine Tüchtigkeit und Gerechtigkeit sicherte ihm unsere uneingeschränkte Achtung, aber sein wort­karges Wesen ließ ihn nicht recht beliebt werden. Die strengen Anforderungen, die er stellte, sind mir so auf die Knochen gegangen, daß ich mich noch heute zuweilen im Traume ver­zweifelt mit der Lösung algebraischer Rätsel herumplage. Es herrschte unter unserem Dutzend Primanern kein Klassen­bewußtsein und keine Kameradschaft auf Leben und Tod, weshalb auch weder von Schülerverbindungen noch von Klassenstreichen zu berichten ist. Nur zu zweien oder dreien waren wir freundschaftlich verbunden, einige auch ehrlich verfeindet, so daß bisweilen in der Zwischenstunde eine fröhliche Rauferei für Unterhaltung sorgte. Doch gegenüber der mathematischen

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/22&oldid=- (Version vom 21.6.2024)