Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/21

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

freilich wie jeder Prophet auch manchmal irrte. Eine Glanz­nummer seiner Lateinwissenschaft, auf die er sich viel zugute tat, bildete die gewiß schwerwiegende, aber keineswegs neue Entdeckung, daß in einem Hexameter Ovids an Stelle einer kurzen Silbe fälschlich eine lange stehe. Auf einen Hauch vom Geiste des Altertums warteten wir vergebens.

Besser gesattelt war unser geschätzter Romanist für den Unterricht im Französischen, nur daß es ihm an der nötigen Gewandtheit im mündlichen Gebrauch der fremden Sprache fehlte. So ging es aber den meisten Lehrern. Als einmal im Kriegsjahre 1870 einige gefangene Franzosen im Vorbei­gehen am Schulhause aus der Aufschrift Realschule ge­schlossen hatten, daß man ihnen da drinnen in ihrer Sprache Auskünfte erteilen könne, war der gute Rektor, zu dem sie kamen, in böse Bedrängnis geraten. Seiner Sache durchaus sicher war dagegen der Lehrer des Englischen Dr. Peschel, derselbe, der sich später als Begründer des Körnermuseums verdient machte. Er sammelte schon damals Andenken an Theodor Körner und lud mich gelegentlich zu deren Besichti­gung in seine Wohnung im Großen Garten ein. Die Reiter­pistole des Freiheitsdichters in der Hand haltend, empfand ich da die ersten Schauer der Heldenverehrung.

Das Deutsche wurde vom Rektor Niemeyer anregend und in wissenschaftlichem Geiste behandelt. Dieser würdige Gelehrte war vielleicht kein kräftig durchgreifender Schul­leiter und keine das Ganze anfeuernde Persönlichkeit, aber in seinem Fache ein vorzüglicher Lehrer. Immer erschien er gründlich vorbereitet und mit Ausgaben der zu besprechenden Dichtungen ausgerüstet, von denen er uns wenigstens den Einband vorzeigte. Dabei zog er durch ein lebhaftes Gebärdenspiel an, manchmal in erheiterndem Gegensatze zu dem bitterernsten Antlitz, über dessen scharfgeschnittene, fast an Dante erinnernde Züge nur selten ein Lächeln glitt. Wie anschaulich verstand er beim Vortrag von Gedichten Walthers

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/21&oldid=- (Version vom 13.6.2024)