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ruhmreiche deutsche Vergangenheit! Statt die Geister ihrer schlummernden Helden in den Seelen der Jugend zu neuem Leben zu erwecken, schien er es darauf abzusehen, sie nur noch tiefer einzuschläfern; es fehlte bloß, daß man es vom Kyffhäuser her schnarchen hörte. – Auch die Erdkunde wurde von einem diese Wissenschaft nicht frei beherrschenden Lehrer vorgetragen. Nach seiner Art des Unterrichts konnte man denken, es komme nicht darauf an, eine lebendige Vorstellung von der Welt zu erhalten, sondern nur zu erfahren, was in seinem Lehrbuche stand. Der kleine, lahme, etwas grillige Buchgeograph sprach, hinter dem Himmelsglobus hervorlugend, von dem grenzenlosen Wunder des Weltalls in demselben gleichgültig schnarrenden Tone, wie wenn er mit seinem Krück­stocke auf der Wandkarte den thüringischen Zwergstaaten ihre Grenzen anwies.

Der gemütliche Lehrer des Lateinischen und Französischen war ebenfalls ein ehemaliger Theolog und nebenbei ein Meister im Anekdotenerzählen. Er schien bisweilen den lockenden Morgenruf der Pflicht Heus, heus, surge Bruno! tempus est eundi in scholam! überhört zu haben und tauchte dann sehr spät in der Klasse auf. In diesem Falle wußten wir schon, wie der Hase lief: wir durften für uns arbeiten, während er sein gerötetes Haupt gedankenschwer auf das genußfreudige Bäuchlein herabsinken ließ. Der für die Gaben der Muße sehr empfängliche Jugendbildner konnte im Lateinischen nur noch mit verblaßter Erinnerung ans Gymnasium aufwarten und liebte es, bei der Übersetzung schwieriger Stellen, auf die er selbst meist nicht vorbereitet war, zur Sicherheit erst die Ansicht des Primus einzuholen, ehe er entschied, was der alte Römer gemeint habe. Ich hatte mir schließlich angewöhnt, bei falschen Lösungen mit dem Kopfe zu schütteln, bei richtigen zu nicken, was der Mann auf dem Katheder wohl beobachtete. Es machte mir wie meinen Banknachbarn Spaß, mich so als lateinisches Wettermännchen benutzt zu sehen, das sich

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/20&oldid=- (Version vom 13.6.2024)