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Lieferungsbedingungen so geschäftsgewandt ausgefallen, daß der Lehrer den Brief der Klasse als Musterstück vorlas. Auch in der Geschichte machte ich mir bald eine Stellung. Nachdem ich einmal über das Maß der verlangten Kenntnisse hinaus auf die Frage nach hervorragenden Machthabern im mittel­alterlichen Frankreich die Grafen von Toulouse zu nennen gewußt hatte, war mein Ansehen als Historiker fest begründet. Diese Fälle sind mir in der Erinnerung geblieben, weil ich ihnen offenbar die andauernd rücksichtsvolle Behandlung von seiten der Lehrer mit zu verdanken hatte.

Nach einem halben Jahre saß ich in der Sekunda schon auf einer der vorderen Bänke, wo die wohltuende Wärme, die von einem tüchtigen Lehrer wie von einem gutheizenden Ofen ausstrahlt, kräftiger zu spüren war. Im nächsten Jahre rückte ich zum Klassenersten der Unterprima auf und behauptete mich auf diesem ein gutes Sitzfleisch erfordernden Platze auch in der Oberprima, immer neben mir als Zweiten einen Freund, der später zu unsern ersten Berg- und Hüttentechnikern gehörte: Kurt Sorge. Er hat mir als treuer Kamerad bei Gefahr schlagender Wetter am mathematischen Arbeitsort gar man­chesmal rechtzeitig aus der Grube geholfen.

Der Unterricht in den oberen Klassen ließ bei mir viele Wünsche offen. Gerade einige von den Fächern, denen ich den stärksten Lerneifer entgegenbrachte, waren mit den schwächsten Lehrkräften besetzt. Wenn etwas die Echtheit meiner Neigung für die Geschichtswissenschaft beweisen konnte, so war es die Erfahrung, daß ein zweijähriger, trockener und trostlos lang­weiliger Geschichtsunterricht sie nicht zu ertöten vermochte. Der theologisch gebildete Konrektor Wittich, der ihn erteilte, war ja ein sehr gewissenhafter und biederer, auch einem Späßchen nicht abgeneigter alter Herr. Soweit aber sein Vortrag etwas von innerer Bewegung spüren ließ, lebte sie sich lediglich in einem unausgesetzten Drehen der Schnupftabaksdose auf dem Katheder aus. Was half einem da alle Begeisterung für die

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/19&oldid=- (Version vom 13.6.2024)