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Botenfrau, der seinerseits als Lastträger den billig arbeitenden Elbdampfer benutzte. Der bejahrten, stets munteren Frau übertrug ich die Hin- und Herbeförderung der Wäsche, wobei sie mir jedesmal einen erfrischenden Hauch von Heimatluft ins Haus brachte. Denn die Mutter behielt meine Wäsche der eigenen sachverständigen Behandlung vor, um von dem ihr entrückten Sohn immer einen wesentlichen Bestandteil unter den Händen zu haben und zugleich sicher zu sein, daß er nicht mit schlecht geplättetem Vorhemdchen den guten Ruf der Meißner Hausfrauen in der Hauptstadt gefährde. So sog ich aus dem Duft von Seife und Soda die beglückende Gewißheit einer unauflöslichen Verbindung mit dem Elternhause. Ich selbst hoffte in meinen Sonntagssachen bei den Dresdnern einen vorteilhaften Eindruck zu machen. „Reine Wäsche und ein Wort Latein zieret den jungen Mann,“ sagte der alte Magister Rätel.

Die Herrlichkeiten der Stadt kümmerten mich zunächst nur wenig, mein ganzes Sinnen war auf das Schulhaus in der Königstraße gerichtet, an dessen Eingange die steinernen Gestalten Lessings und Humboldts strenge Wacht hielten. Dort sollte ich am 4. Oktober 1869 zeigen, was ich konnte. Die Neustädter Realschule erster Ordnung war damals in der Umwandlung zu dem Realgymnasium begriffen, das der Stadtrat später auf meinen Vorschlag nach der benachbarten Kirche Dreikönigschule benannt hat. Ich hatte zu Hause gesagt, ich würde mich für die Tertia melden, hoffte im stillen aber in die Sekunda aufgenommen zu werden. Als ich in das Prüfungszimmer unter die musternden Augen der Lehrer trat, kam ich mir vor wie ein junges Pferd, dem die Käufer das Maul aufsperren, um an den Zähnen seine Jahre abzulesen. Bei mir konnten sie das Alter aus dem bärtigen Gesicht leicht erraten, aber um meine Weisheit zu ergründen, mußten sie mir allerdings auf den Zahn fühlen. Das vermochte freilich noch keiner zu sagen, ob ich mich zu einem flotten Renner oder

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/17&oldid=- (Version vom 5.6.2024)