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fallen, als ich schon von Kind auf ein wenig an spartanisches Leben gewöhnt war.

Ob der Zug ins Reich der Wissenschaft mir zum Heile gereichen würde, wer konnte es sagen? Die Eltern hatten gegen das kostspielige Unternehmen große Bedenken und hielten es für gewagt, aus den gewohnten ebenen Gleisen auszubrechen und hoch hinaus zu wollen. Ich aber vertraute auf mein gutes Glück und die treue Fürsorge meines Bruders August, der sich opferbereit meiner annahm. Frohen Herzens rüstetete ich mich zur Reise. Eine Kiste mit Vorlegeschloß, wohl aus der Hinterlassenschaft eines Jahrmarkthändlers her­rührend, war dazu ausersehen, meine Habseligkeiten aufzunehmen. Wirkte sie auch nicht gerade vornehm, so war doch ihr stämmiges Aussehen geeignet, einen reicheren Inhalt an Kleidern, Wäsche und Schuhwerk vorzutäuschen, als die sorgende Mutter ihr anzuvertrauen hatte. Den meisten Platz darin beanspruchten meine geliebten Bücher, neben der von herrlichen Regeln und Ausnahmen strotzenden lateinischen Grammatik von Middendorf und Grüter und der nicht minder reichhaltigen französischen von Ploetz, ausgewählte Werke von Lessing, Goethe, Schiller und Kleist und als besonderer Liebling die Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs von meinem – damals – gefühlsverwandten Namensvetter Jean Paul. Mein Herz war somit in der Kiste auf dem Planwagen des Botenfuhrmannes, der die kostbare Last in gemächlich knar­render Fahrt auf der großen Landstraße, vorbei an den mit reicher Ernte gesegneten Weingeländen der Spaarberge und des väterlichen Geburtsortes Kötzschenbroda, nach Dresden bringen sollte. Seinem wachsamen weißen Spitz überließ ich die Sorge für die Sicherheit meiner Habe, mich trieb die Ungeduld zur Benutzung der schnelleren, wenn auch nicht so gefahrlosen Eisenbahn. Noch ein andres bedeutendes Ver­kehrsmittel nahm ich alsbald in Anspruch: den Tragkorb der

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/16&oldid=- (Version vom 5.6.2024)