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an und weiß die Freiheiten seiner Verfassung zu würdigen. Ist er auch nicht leicht in Ekstase zu versetzen, so zeigt er doch auf Impuls Lebendigkeit, Heiterkeit und Witz. Bei mäßiger Lebenslust ist ihm ein großer Sinn für das Familienleben und die Natur eigen. Ein musikalischer Sinn gibt sich durch viele Vereine, sehr verbreitetes Clavierspiel und große Gesangeslust kund. Den Kunstsinn hob schon Schubart hervor, und Göthe erkennt an, daß sich im Theater, welches übrigens der eigentliche Bürgerstand seltener besucht, sowohl durch Schweigen als Beifall immer ein richtiges Gefühl verrathe. Des überhandnehmenden Luxus ungeachtet hat die Neigung zu weiser Sparsamkeit, welche durch einige Anstalten genährt wird, im Allgemeinen nicht fühlbar abgenommen. Ein großer Sinn für Wohlthätigkeit spricht sich in namhaften Stiftungen und vielen mildthätigen Vereinen aus, wirkt aber vielleicht noch mehr im Stillen. Die Religiosität hat noch immer die Oberhand, mehr als in anderen größeren Städten, und wird durch besondere Vereine gepflegt. Erhält sie auch da und dort durch den hervortretenden Pietismus ein eigenes Gepräge, so gibt dies doch den anders Denkenden keinen besonderen Anstoß, sowie auch im Allgemeinen eine wohlthuende Toleranz herrscht, die sich auch in der Erscheinung ausspricht, daß nach mehrjährigen Erfahrungen unter vier Ehen der Katholiken drei gemischte sind. An kirchlichem Sinne steht Stuttgart dem platten Lande wenig nach, wie dies schon die an Festtagen überfüllten Kirchen ersehen lassen. Die intellectuelle Bildung hat sich früher, als in manchen anderen Orten, gehoben, und es wurde dem fanatischen Glauben an Hexen 1663 das letzte Opfer gebracht; 1684 wurde noch eine der Hexerei verdächtigte Verstorbene in loco separato begraben, schon 1697 aber die behauptete Existenz eines Poltergeistes als praesumtio erklärt und 1741 eine Klage wegen Hexerei mit einem ernstlichen Verweis „wegen heillosen Aberglaubens“ abgewiesen. Mit dem Verkehre nach Außen klärten sich die Geister allmälig ab; es entstanden Zeitungen, 1712 das erste Kaffeehaus, 1783–1784 die „Metzler’sche Lesegesellschaft mit Kunstversammlungen und literarischen Vorlesungen“, 1785 die erste öffentliche Leihbibliothek. Die Freimaurerloge Karl zu den drei Cedern ward 1772 (nach Pfaff 1777) errichtet und 1781 der Illuminaten-Orden hierher verpflanzt. Schon längst kann sich, nach dem Urtheile Fremder, Stuttgart mit jeder anderen Hauptstadt hinsichtlich der Bildungsstufe messen. Eine tüchtige Schulbildung ist, wie in keiner anderen Stadt, durch alle Classen der Bevölkerung verbreitet, und ein guter Schulsack ist hier sprichwörtlich geworden. Der Gebildete versteht meist mehrere Sprachen (und selbst ein Theil der

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Rudolph Moser: Beschreibung des Stadtdirections-Bezirkes Stuttgart. Eduard Hallberger, Stuttgart 1856, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OAStuttgartStadt0090.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)