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daß niemand gleichzeitig Mitglied des Reichstags und des Bundesrats sein kann. Die großen staatsrechtlichen Schwierigkeiten, die sich aus der gleichzeitigen Zugehörigkeit zum Bundesrat und zum Reichstag ergeben, sind nicht zu verkennen. Aber es muß versucht werden, diese Hemmungen zu beseitigen, und der Weg muß entweder in der Beseitigung des Artikels 9 der Reichsverfassung oder in einer Stellung der zu ernennenden Staatssekretäre geschaffen werden, welche diesen, ohne dem Bundesrat anzugehören, doch die Möglichkeit gibt, durch ihre Nichtzugehörigkeit zum Bundesrat in ihrer Wirksamkeit nicht beschränkt zu sein.

Strittig bleibt die Frage, ob Staatssekretäre ohne Portefeuille den Zusammenhang zwischen den Fraktionen und der Regierung besser bewahren als das von dem Reichskanzler vorgeschlagene System der Berufung von Angehörigen aller Parteien in die verantwortliche Reichsregierung und der Schaffung eines Reichsrats, in dem die Parteiführer mit Mitgliedern des Bundesrats zu den großen Aufgaben der äußeren und inneren Politik Stellung nehmen. Mir ist persönlich der Staatssekretär ohne Portefeuille keine wünschenswerte Erscheinung des politischen Lebens. Er kann akzeptiert werden als ein Provisorium für eine Übergangszeit, in der alles im Werden ist. Er erscheint mir als ein der Festigkeit entbehrendes Gebilde in normalen Zeiten der Gesetzgebung.

Es fehlt nicht an Versuchen, die Mehrheitsparteien des Reichstags zur Macht aufzupeitschen und ihnen darzulegen, daß die Zeit gekommen sei, wo sie die Regierung in die Hand nehmen und den Mehrheitswillen der Volksvertretung zum Ausdruck bringen könnten. Mir erscheint eine derartige Mehrheitsregierung in der Kriegszeit gar nicht gangbar zu sein. Wir sehen, daß die parlamentarisch regierten Länder heute empfinden, daß sie die Anspannung aller Kräfte brauchen, um ihrerseits ihr Durchhalten sicherzustellen. Sollen wir in einer Zeit, in der Herr Kerenski die Kadetten in sein Ministerium zurückberuft, den Fehler machen, eine einseitige Mehrheitsregierung aufstellen zu wollen? Ich habe keine Bedenken vom Standpunkt des Burgfriedens, der zerlöchert ist wie ein Sieb. Aber ich wehre mich dagegen, daß das Kaiserwort: „Ich kenne keine Parteien mehr,“ das einstmals den politischen Boykott gegenüber der Sozialdemokratie aufhob, heute zunichte gemacht werden soll, indem man den politischen Boykott gegen die konservative Partei proklamiert. Ich warne vor den Rückwirkungen, die das auf weite Kreise des deutschen Volkes, das nicht nur aus Großstädtern besteht, machen würde. Überstürzen wir nicht Entwicklungen, die im Werden sind und ihren Weg finden werden. Freuen wir uns, daß der politische Boykott gegen alle Parteien jetzt aufgehoben ist, und versuchen wir, was bei der Lösung, die gegenwärtig gefunden ist, an praktischer Arbeit geleistet werden kann. Geht der Weg nicht zum Reichsrat, sondern zu den parlamentarischen Staatssekretären, so wird die Entwicklung

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Gustav Stresemann: Parlamentarismus, in: Nord und Süd, Band 163, S. Schottlaender, Breslau 1917, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:NordSued_163_1917_08.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)