Den Rhein entlang und weiter nach Osten entwickelten sich damals furchtbare Judenmetzeleien; ganze Gemeinden wurden vernichtet, abgeschlachtet, beraubt, so daß, wer von den Juden konnte, vor den heranziehenden Kreuzfahrern nach Osten floh. Diese fliehenden jüdischen Massen fanden damals ein Asyl in den slavischen Ländern östlich von Deutschland; unter den Polen, den Litauern, den Russen; dort wurden sie wieder seßhaft und begannen eine besondere wirtschaftliche Funktion in diesen Staaten einer damals völlig unentwickelten Kultur zu erfüllen. Sie brachten aus den rheinischen Gegenden die Fertigkeiten einer handwerklichen Entwicklung und geschäftlichen Regsamkeit mit, die für den Polen einen wesentlichen Fortschritt zu jener Zeit bedeuteten, und als die Träger und Vermittler dieser städtischen Kulturgüter waren sie unangefeindet willkommen, und nutzbringend in den weiten ausschließlich agrarischen Gebieten des Ostens. Als Erinnerung an ihre rheinische Herkunft bewahrten diese ausgewanderten, vertriebenen Juden des Westens ihren westdeutschen Dialekt, den Tonfall und zum Teil ihren alten Wortschatz, und wenn die Antisemiten unserer Zeit über das „Mauscheln“ der Nachkommen jener höhnen, so verhöhnen sie geistreicherweise die Art zu Sprechen und zum Teil den Wortschatz jener Germanen, die vor länger als anderthalb Jahrtausenden in den westlichen deutschen Grenzmarken sich festgewurzelt hatten. Die Weltgeschichte erlaubt sich häufiger solche Scherze mit ungebildeten Fanatikern.
Andere weit weniger zahlreiche jüdische Scharen waren längs den Küsten des Mittelmeeres in das heutige Südrußland eingewandert, und hier wurde die Zahl der Bekenner jüdischer Religion dadurch noch vermehrt, daß der Khan der Chasaren den Entschluß faßte, zum Judentum überzutreten, und entsprechend
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)