Aus dieser Erfahrung folgt, daß zunächst nur ein Vorversuch mit dem Ansetzen einiger weniger Kolonisten gemacht werden darf, und erst auf Grund weiterer günstiger Erfahrungen kann alsdann die Kolonie ausgebaut werden; das gilt wenigstens für koloniale Versuche in noch nicht erschlossenen Gebieten, und um die wird es sich im Wesentlichen für eine jüdische Kolonie handeln; solche Gebiete wird am ehesten die russische Regierung zur Verfügung stellen; sie sind am leichtesten zu erhalten, aber sie bergen auch größere Gefahren, und darum ist besondere Vorsicht notwendig.
Die Kolonisten, die aus dem ursprünglichen Judenrayon stammen, werden zum ganz überwiegenden Teil auch nicht vertraut mit landwirtschaftlicher Beschäftigung sein. Sie müssen für die Viehhaltung, wie für den Ackerbau angelernt werden.
Es hat sich bereits herausgestellt, daß diese Ueberführung in einen neuen Beruf sich unschwer und zugleich mit größter Schnelligkeit ermöglichen läßt. Die Erfahrungen des „Joint“ sind die besten. In kürzester Zeit haben sich die Juden aus dem Rayon, die der „Joint“ in seinen Kolonien angesetzt hat, in den landwirtschaftlichen Beruf unter geeigneter Anleitung eingearbeitet, und das Ueberraschende hat sich ereignet, daß diese jüdischen Kolonien landwirtschaftlich sodann schnell auf eine höhere Stufe gelangten, als die landwirtschaftlichen Betriebe der älteren nichtjüdischen Kolonisten der Umgegend bis dahin gewesen sind. Es trat ferner die erfreuliche Rückwirkung ein, daß jüdischer Kolonialbetrieb anfeuernd und fördernd auf die bisherige russische bäuerliche Landwirtschaft einwirkte.
Wenn solche Möglichkeiten vorliegen, so bleibt nur noch die Frage der Finanzierung dieser Unternehmungen zu lösen.
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)