Bodens wohl ein Urteil gefällt werden, das mehr bedeutet als nur wissenschaftlich-theoretische Untersuchungen, die auch bei größter Vorsicht nicht alle Möglichkeiten und Gefahren gleichmäßig in Rechnung stellen können.
Ich erinnere mich des Schicksals einer jüdischen Kolonie in Anatolien, also in der asiatischen Türkei, die elend zugrunde ging und aufgelöst werden mußte. Die Fruchtbarkeit des Bodens, das Klima erwies sich als durchaus günstig, aber die Malaria warf die Kolonisten auf das Krankenbett, entkräftete sie, machte sie zu jeder schweren Arbeit untauglich und stieß viele auch ins Grab. Es war nämlich nicht beachtet worden, daß in recht erheblicher Entfernung von der Kolonie sich Sümpfe befanden, Brutstätten für die Malariamücken, die Träger des Fiebergiftes. Um sie unschädlich zu machen, gab es freilich einige Möglichkeiten, die alle aber nicht in Betracht kommen konnten. Es wäre möglich gewesen, die Sümpfe auszutrocknen; die Durchführung wäre zu kostspielig, unverhältnismäßig kostspielig gewesen. Es wäre möglich gewesen zwischen Sumpf und Kolonie durch Aufforstungen die Mücken von ihrem Flug zu den Menschen abzuhalten; eine Prozedur, deren Erfolg viel zu langsam wirksam geworden wäre, voraussichtlich erst, nachdem die größte Zahl der Kolonisten zugrunde gegangen wäre. So blieb nichts übrig, als diese Siedlung, die in schöner Entwicklung zu sein schien, wieder aufzugeben.
Aber die Lehre, die diese Erfahrung darbietet, sollte wenigstens für die jüdische Kolonisation nicht verloren gehen. Diese Lehre liegt offen zu Tage. Eine koloniale Gründung darf erst dann als bleibend entwicklungsfähig betrachtet werden, wenn sie eine nicht unerhebliche Zeit hindurch sich als zukunftsreich erwiesen hat.
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/32&oldid=- (Version vom 1.8.2018)