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Die gegenwärtige Lage.


Vor allem sind in Betracht zu ziehen: Litauen, Polen und die Union der Sowjet-Republiken.

In Litauen wurde – und das ist zu betonen – unter Einflußnahme einiger führender, jüdischer Einzelpersonen ein Experiment zunächst versucht, das verlockend modern, das verlockend fortschrittlich erschien, und dann sich als vollständig verfehlt herausgestellt hat.

Daß dieses Experiment zusammenbrechen würde, ließ sich voraussehen; sah ich voraus; aber trotz aller Warnungen wurde es unter Führung zionistischer litauischer Juden ins Leben zu rufen unternommen, und im Rausche demokratischer Freiheit glaubten auch die fortschrittlich gesinnten, nicht–jüdischen Kreise Litauens zustimmen zu sollen. So machte man denn in dem kleinen litauischen Staate den Versuch, den dort ansässigen Juden eine durchgeführte Autonomie zu gewähren. Man schuf eine zwiefache Behördenorganisation von unten hinauf bis zum Ministerium, und es hatten die litauischen Juden eine kurze Zeit hindurch das Vergnügen, jüdische Beamte aller Art, auch einen jüdischen Landsmannschaftsminister zu haben. Schnell trat dann ein, was eintreten mußte. Diese doppelte Behördenorganisation war in dem kleinen, durch den Krieg stark mitgenommenen Lande natürlich finanziell nicht zu tragen, und statt dem Zusammenhalt aller Bürger Litauens zu dienen, trat durch dieses Auseinanderreißen der Bevölkerung eine Entfremdung ein. Litauen, das zur Zeit des Zarismus den Antisemitismus kaum, man

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Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/17&oldid=- (Version vom 1.8.2018)