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Ein anderer Leutnant wieder liegt mit gänzlich zerschmettertem Bein. Er ist in diesem Zustand die ganze Nacht auf Leichen gelegen und hat sich mit Leichengift infiziert. Man glaubte, das Bein abnehmen zu müssen, und es wird nur der seltenen Kunst unseres Chirurgen zu verdanken sein, wenn es dennoch erhalten bleibt. Für niemand finde ich schwerer Worte, als ihm gegenüber und für niemand hätte ich sie lieber. Denn keiner leidet körperlich und seelisch härter. Er ist Skiläufer und Hochtourist, ein freier Vogel der Berge mit gebrochenem Fittich. Er hat schwere Stunden, wo die Bitterkeit über ihn zusammenschlägt, und man zermartert sein Herz um das richtige Wort.

Wir haben auch viele Galizianer im Spital, der eine liegt mit einer schweren Armverletzung. Er hat Frau und Kinder in Lemberg und weiß seit 3. September, seit dem Einzuge der Russen in Lemberg, nichts mehr von ihnen. Ob sie in Lemberg geblieben, ob sie geflohen sind, ob sie noch leben?

Es sind solcher mehrere hier. Sie tun mir bis in die Seele hinein leid. Wie sollen sie gesund werden, mit dieser nagenden Ungewißheit um Frau und Kind, um Haus und Heim, die sie so schwer bedroht wissen?


Przemysl, den 30.November 1914,
     am 25. Tag der 2. Belagerung.

Seit 2—3 Tagen setzt das Geschützfeuer lebhafter ein. Gestern sprach man davon, daß der Feind unsere Forts bei Zurawica beschießt.

Die Entscheidung in Russisch-Polen ist noch nicht gefallen, wenn wir auch gegen 100 000 Mann Gefangene dort gemacht haben.

Heute ist der 25. Tag unserer Einschließung. Genau der Tag, der uns bei der 1. Belagerung die Befreiung

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/96&oldid=- (Version vom 12.12.2022)