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Schwester Mama und ich hinterher. Wir sehen uns erst beide ein wenig erstaunt im Kreise um.

„Der Bahnhof scheint weit außerhalb des Ortes zu liegen!“ bemerke ich harmlos.

Wir traben schweigend weiter. Eine flache Sandwüste mit niedrigen, schmutzigen Holzhütten. Das, was die Straße vorzustellen scheint, hat zu beiden Seiten, den Holzhäusern entlang, hölzerne Stege mit einem Geländer. Diese Holzstege liegen ziemlich hoch über dem Straßenniveau. Unser Träger steigt hinauf und trabt oben weiter. Ach so, das ist der sogenannte Bürgersteig, der Großstadt-Asphalt! Später wird uns eine Erklärung dafür, warum dieses merkwürdige Trottoir so hoch oberhalb der Straße angelegt ist. Es ist nämlich gleichzeitig die Rettungsinsel für Regengüsse, die die Straße hier unüberschreitbar machen, der sichere Molo, von dem aus man in den Schlammabgrund der Straßen blickt, in dem überdies die Schweine wühlen.

In eines der letzten Häuschen des Ortes will unser Träger abschwenken. Ich erfasse ihn verzweifelt an der Falte seines russischen Kittels:

„Mensch,“ sage ich entgeistert, „ich will in ein Hotel!“

„Ja, ja,“ nickt er wieder, „schönes Hotel, sehr schön!“

Und verschwindet im Haus, oder besser gesagt in einem niedrigen Zimmer, das direkt auf die Straße führt.

In einer anstoßenden Kammer sitzt die Judenfamilie in tiefster Aufgelöstheit auf ihren Betten, zwischen hoch aufgetürmten Polstern. Der Vater sieht mein ratloses, entsetztes Gesicht: „Wern Se's gut hier haben,“ sagt er in einem fast unverständlichen Jüdisch-Deutsch, „wern

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/191&oldid=- (Version vom 1.8.2018)