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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 17

Im Gegensatz zu dieser klimatischen Firngrenze bezeichnet Ratzel die orographische Schneegrenze als die Linie, welche die Gruppen der im Schutz von Lage, Bodengestalt und Bodenart vorkommenden Firnflecke und Firnfelder verbindet. Kerner endlich versteht unter normaler Schneedecke jene Linie, bis zu welcher auf Gehängen und Gipfeln, abgesehen von Mulden und ebenen Flächen, der S. zurückweicht. Die verschiedenen Definitionen unterscheiden sich also hauptsächlich nur durch den Grad, in welchem der Einfluß des Gebirgsbaues als wesentlicher Faktor in Betracht gezogen wird. In erster Linie werden die Schneeansammlungen aber durch klimatische Faktoren bedingt; solche sind die Wärmeabnahme mit der Höhe und die Anwesenheit einer gewissen Menge von Wasserdampf. Bei der Bestimmung der Schneegrenze für ein bestimmtes Gebirge kommt es also darauf an, die orographischen Elemente von den klimatologischen zu scheiden. Diese Aufgabe ist von E. Richter für die Gletscher der Ostalpen durchgeführt. Nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die Höhe der klimatischen Schneegrenze in den Ostalpen, d. h. derjenigen Linie, über welcher zur Schneeansammlung geeignete Stellen vermöge der niedrigen Lufttemperatur auch ohne den Schutz orographischer und geologischer Begünstigung nicht mehr schneefrei werden:

Ostalpen Höhe der klimatischen Schnee­grenze in Metern
Nord­abhang Im Mittel Süd­abhang
Nördliche Kalkalpen 2500
Silvretta 2700
Ötzthaler Alpen 2800 2900–3100
Ortleralpen 2900 3000
Adamellogebirge 2800
Stubaier Gebirge 2800
Zillerthaler Alpen 2700
Westl. Tauern: Venedigergr. 2600 2700 2800
Östl. Tauern: Glocknergruppe 2600
 Schober- und Goldberggr. 2700
 Ankogelgruppe 2600 2700
Südliche Kalkalpen: Brentagr. 2700
Südtiroler Dolomite 2700–2750

Aus diesen Zahlen läßt sich zunächst die Thatsache entnehmen, daß ein Ansteigen der Schneegrenze in den Alpen in der Richtung von W. nach O., wie man früher annahm, nicht besteht. Das beweist die große westtirolische Massenerhebung zu beiden Seiten der obern Etsch, der südliche Teil der Ötzthaler Alpen und die Ortlergruppe, die sich als ein Gebiet sehr hoben Standes der Schneelinie erweist, welches sowohl im N. und NW. als im S. von Gebieten mit niedrigerer Schneegrenze umgeben ist. Die Außenränder besitzen eine tiefere Schneegrenze als die innern Teile, die größten Massenerhebungen weisen den höchsten Stand auf; anderseits sinkt die Linie um so mehr, je weniger breit im ganzen der noch in die Schneeregion aufragende Teil des Gebirges ist. Die Zunahme der Höhe der Schneegrenze ist von N. gegen S. weniger bedeutend als von außen gegen innen, indem die Schneegrenze in den südlichen Randketten zwar höher liegt als in den nördlichen, aber doch niedriger als in den innern Gebieten. Vgl. E. Richter, Die Gletscher der Ostalpen (Stuttg. 1888); Woeikof, Der Einfluß einer Schneedecke auf Boden, Klima und Wetter (Wien 1889); Ratzel, Die Schneedecke, besonders in deutschen Gebirgen (Stuttg. 1889).

 Schneeverwehungen. Die großen S. der letzten Winter haben so umfangreiche und das gesamte Kulturleben beeinflussende Unterbrechungen des Eisenbahnbetriebes zur Folge gehabt, daß naturgemäß der Frage nach Anlagen zur Verhütung von S. und nach Mitteln zur Beseitigung von Schneeanhäufungen, welche durch eine lange Reihe schneearmer Jahre als unwesentlich vernachlässigt waren, nunmehr eine erneute lebhafte Beachtung geschenkt wurde. Am sichersten und besten wäre es jedenfalls, die S. durch geeignete Mittel überall vollkommen zu verhüten; jedoch würde eine allgemeine Durchführung und Unterhaltung diesbezüglicher Schutzvorrichtungen gegenüber der Wegräumung der Schneemassen in jedem einzelnen, zum Glück nicht allzu häufig eintretenden Fall einer Verwehung so erhebliche Mehrkosten verursachen, daß dadurch der Vorteil der gänzlichen Beseitigung der Betriebsstörungen zu teuer erkauft würde. In welchem Umfang die vorbeugenden Mittel anzuwenden und wann die Mittel zur Beseitigung vorteilhafter sind, wird immer einerseits nach der Wichtigkeit der betreffenden Bahnstrecke zu beurteilen sein, anderseits aber von dem Grade der Vervollkommnung der Vorrichtungen zur Schneeräumung abhängen. Kann ein langer Einschnitt auch bei schwerem Schneetreiben mit Sicherheit durch Schneeräumung mittels geeigneter Maschinen in dem für den Hauptbetrieb erforderlichen Umfang, etwa mit Unterbrechungen, die höchstens nach Stunden zählen, schneefrei gehalten werden, so tritt naturgemäß die Frage der Anlage von Schneewehren in ein andres Stadium, als wenn die Schneemassen durch Handschaufeln oder günstigsten Falls durch einen Schneepflug beseitigt werden müssen, wozu eine sehr viel längere und im voraus nicht zu bestimmende Zeit verbraucht wird. Um die mit S. verbundenen Übelstände zu mildern, wird von vielen Seiten auch dringend empfohlen, von den Wetterwarten an die Eisenbahnverwaltungen Schneewarnungen erteilen zu lassen, nach Analogie der Sturmwarnungen für die Seeküsten. Ist man vorher gewarnt, so kann man den Schneewehen mit größerm Erfolg entgegentreten, man kann die Streckenarbeiter geeignet disponieren und vermehren, an besonders gefährdeten Stellen provisorische Schutzvorrichtungen anbringen, die Züge und Stationen mit Lebensmitteln versehen etc.

Die mit Schnee erfüllte Luft verhält sich ähnlich wie Wasser, welches Sinkstoffe enthält. Solange keine Verminderung der Geschwindigkeit eintritt, wird der Schnee fortgetrieben, ohne besondere Ansammlungen, S., zu bilden. Wo jedoch durch irgend eine Ursache die Geschwindigkeit der Luft vermindert wird, findet Schneeablagerung statt. Man kann daher die Bahn auf zwei Arten vom Schnee frei halten, indem man entweder neben ihr künstlich Ablagerungsstellen schafft, oder Anlagen herstellt, welche die Luft derartig leiten, daß eine Verminderung ihrer Geschwindigkeit auf dem Bahnplanum nicht eintritt. Die erstern Anlagen sind zur Zeit die verbreitetern. Die gefährlichen Stellen der Bahnen für S. sind die Einschnitte, d. h. diejenigen Stellen, wo die Bahn tiefer liegt als das zu beiden Seiten sich anschließende Terrain, und die Anschnitte, welche nur auf einer Seite von höher gelegenem Terrain begrenzt sind, weil bei beiden hinter der windseitigen Böschung sich eine ruhende Luftschicht bildet, welche eine Schneeablagerung auf der Bahn zur Folge hat (Fig. 1 u. 2, S. 732). Ein niedriger Einschnitt wird bei einer Windrichtung, die in einem rechten oder nicht allzu spitzen Winkel auf die Bahnlinie trifft, von der Windseite her allmählich verweht, wobei indes zum Schluß die Oberfläche nicht eben wird, sondern eine Vertiefung behält, welche nicht in der Mitte des Einschnittes,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 17. Bibliographisches Institut, Leipzig 1890, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b17_s0735.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2023)