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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 17

verdunstenden Oberfläche tritt eine deutliche Schutzeinrichtung gegen Wasserverlust zu Tage. Schließlich vermögen manche Luftwurzeln, z. B. von Aëranthus fasciola, selbst den dorsiventralen, d. h. an der Rücken- und Bauchseite verschieden erscheinenden, Bau von Laubblättern anzunehmen, indem die weiße Unterseite der Durchlüftung und der Wasserzufuhr dient, während die flache, grüne Oberseite die Kohlenstoffassimilation besorgt. Die Formen der rindenständigen E. bilden, da sie auf Kosten des spärlichen Humus der Baumrinde und der in Moospolstern befindlichen Nährstoffe wachsen müssen, keine großen und üppigen Pflanzengestalten aus, sondern treten vorzugsweise als Kräuter von niedrigem Wuchs, bisweilen auch als kleine Sträucher und nur sehr selten in der Größe des Philodendron cannifolium mit ca. 1 m hohen Blattrosetten auf.

Eine zweite Gruppe bilden diejenigen E., welche von ihren hoch gelegenen Anhaftungsorten aus Wurzeln bis in den Erdboden treiben (bodenständige E.). Abgesehen von der nur in der Keimungsperiode auftretenden Hauptwurzel, besteht das Wurzelsystem der E. nur aus Nebenwurzeln (Adventivwurzeln), die im einfachsten Fall die Eigenschaft des zum Erdmittelpunkt gerichteten Wachsens (den sogen. positiven Geotropismus) noch nicht besitzen, sondern nur zufällig bei hinreichender Länge den Boden erreichen. Bei innigerer Verbindung von boden- und rindenständiger Lebensweise entwickeln sich die Nebenwurzeln in doppelter Art, indem die einen, die Nährwurzeln, sich stark positiv geotropisch zeigen und außerordentlich schnell senkrecht bis zum Boden hinabwachsen, während die zweite Art, die nicht geotropischen, aber negativ heliotropischen Haftwurzeln, rankenartige, sehr feste Klammerorgane von geringer Länge darstellen. Erstere können unter Umständen eine Länge von 30 m und mehr erreichen und zeichnen sich in ihrem anatomischen Bau durch das Vorherrschen des Leitungsgewebes vor den mechanisch festen Bauelementen aus; die Haftwurzeln sind dagegen auffallend zugfest gebaut und entwickeln einen zentralen, aus stark verholzten Fasern bestehenden Holzkörper, während die leitenden Gefäße und Zellen zurücktreten. Sie sterben übrigens, wenn sie nicht frühzeitig mit einer Stütze in Berührung kommen, ab und umwickeln dieselbe, sofern sie hinreichend dünn ist, mit einigen Windungen; auch kriechen sie, der Unterlage sich dicht anschmiegend, weiter u. halten den Epiphyten, wie die Ranken einen Lianenstamm, in der Schwebe. Zu dieser Gruppe der bodenständigen E. gehören im tropischen Amerika von Monokotylen besondere Arten von Carludovica, Anthurium und Philodendron, von Dikotylen Clusia rosea und manche epiphytische Feigenbaumarten. Bei den letztgenannten entwickelt sich ein primäres System von Nebenwurzeln, das den Wirtsstamm als ein netzartiges Geflecht umhüllt, und von welchem zahlreiche Äste in den Boden dringen. Außerdem entstehen aus den Zweigen sekundäre Nebenwurzeln, die bei Clusia in der geschilderten Weise teils als Haft-, teils als Nährwurzeln zur Ausbildung gelangen, während bei der bekannten ostindischen Banianfeige (Ficus indica) die sekundären Nebenwurzeln zu säulenartigen Stützorganen sich umformen.

Um die im tropischen Urwald reichlich vorhandenen Humusmassen anzusammeln und verwerten zu können, hat eine dritte Gruppe der E. eine eigentümliche Form der Wurzelbildung angenommen, die in dem Auftreten verzweigter Geflechte von vogelnest- oder korbartigem Gefüge besteht, um in demselben allmählich tote Blätter und andre verwesende Pflanzenteile anzuhäufen und so eine reichlichere Nährquelle zu gewinnen (vogelnestbildende E.). Die oft sehr mächtige, z. B. bei Oncidium altissimum kopfgroße, kugelige oder kuchenartig ausgebreitete Wurzelmasse wird durch negativ heliotropische und zugfeste Haftwurzeln an der Unterlage befestigt; die Nährwurzeln, die in diesem Fall ihren Nährboden oberhalb ihres eignen Körpers zu suchen haben, sind dagegen durch negativen Geotropismus ausgezeichnet und stellen sich bei beliebiger Lage der Pflanze stets in die Richtung des Erdradius nach oben. Ausgezeichnete Beispiele dieser Gruppe aus der westindischen Flora bilden das schon genannte Oncidium, dessen Wurzelnest außen von korbähnlich verflochtenen, federkieldicken Haftwurzeln gebildet wird, im Innern aber Hunderte von nadelförmigen, kurzen Nährwurzeln aufweist, und die Aracee Anthurium Huegelii, deren oft über einen Kubikfuß mächtiges Wurzelgeflecht den kurzen Stamm überragt und zahlreiche Verästelungen zwischen die am Grund humusbergende Blattrosette aussendet; mit dem Wechsel der trocknen und nassen Jahreszeit geht das Absterben und Neuauftreten zahlreicher nadeldünner Wurzelspitzen Hand in Hand, während die Haftwurzeln auch während der Zeit der Dürre unversehrt bleiben. Dem Anthurium ähnlich und gleich diesem die Humusstoffe in den Blatttrichtern ansammelnd verhalten sich auch einige Farne des tropischen Amerika und Javas; bei indischen Arten von Polypodium und bei Platycerium alcicorne ist die Aufgabe des Festhaltens von Humus und der gewöhnlichen Kohlenstoffassimilation sogar auf ungleiche und entsprechend ausgebildete Blätter verteilt. Diesen Pflanzen schließt sich endlich auch Dischidia Rafflesiana, eine Asklepiadee des ostindischen Archipels, an, deren Blattschläuche Wasser und Humus aufspeichern.

Während bei den vorausgehenden E. die Wurzeln eine ziemlich ausgedehnte Fläche der Unterlage bedecken, nehmen dieselben bei einer vierten Gruppe, welche ausschließlich durch baumbewohnende Bromeliaceen gebildet wird, kaum ein Areal von der Größe einer Hand ein und sind dabei weder dick noch zahlreich, aber der Baumrinde so fest aufgekittet, daß sich die betreffenden Pflanzen nur schwer von ihrer Anhaftungsstelle lostrennen lassen. Offenbar sind diese überdies mehr oder weniger abgestorbenen Wurzeln außer stande, so stattliche Gewächse wie die epiphytischen Bromeliaceen zu ernähren. Dagegen bilden die Blattrosetten der letztern eine Art von Trichter oder Zisterne, in welchem Humus und am Grund auch Wasser, bisweilen mehr als ein Liter, sich ansammelt. A. F. W. Schimper stellte durch Versuche mit verschiedenen leicht welkenden Bromeliaceen fest, daß diese nach dem Abschneiden der Wurzeln, Überziehen der wurzeltragenden Teile mit Kanadabalsam und durch Begießen der Blätter wochenlang weiter zu wachsen vermögen, während die ebenso behandelten, aber nicht begossenen Pflanzen in viel kürzerer Zeit abstarben. Daraus geht hervor, daß der im Blatttrichter aufgespeicherte Wasservorrat für das Leben dieser Pflanzen unentbehrlich ist; auch besitzen die mit anderweitigen Haftorganen versehenen Bromeliaceen, wie die in kühlern Waldlandschaften des tropischen Amerika sehr verbreitete Tillandsia usneoides, im entwickelten Zustand überhaupt keine Wurzeln. Die grauen, bis 3 m langen, zweizeilig beblätterten, schweifähnlichen Sprosse dieser Pflanze, welche nicht selten so massenhaft auftreten, daß sie das Laub der von ihnen besetzten Bäume völlig verdecken,

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 17. Bibliographisches Institut, Leipzig 1890, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b17_s0302.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2023)