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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

R.). Aus der Einteilung nach dem Stand, Beruf etc. des Helden entspringen die Bezeichnungen: Ritter-, Räuber-, Schäfer-, Bauern-, Soldaten-, Seemanns-, Künstlerromane etc.

[Geschichtliches.] Der R. findet sich bei allen Völkern: im Orient bei Chinesen, Japanern, Arabern und Persern (Nisamis „Medschnun und Leila“, Dschamis „Jussuf und Suleika“); bei den Griechen, wo ihm die sogen. Milesischen Märchen (Liebesgeschichten des Aristeides von Milet um 160 v. Chr.) als Vorläufer dienten, wie in der römischen Kaiserzeit. Iamblichos (2. Jahrh. n. Chr.) schrieb die Liebesgeschichte der Rhodane und des Simonis, Achilleus Tatios (4. Jahrh.) jene des Klitophon und der Leukippe in blumenreichem, Longos das Urbild aller Schäferromane, „Daphnis und Chloe“, in anmutigem, Xenophon von Ephesos und Chariton von Aphrodisias Novellen in einfachem Stil. Der erste wirkliche und kunstreiche R. des Altertums ist Heliodoros’ (aus Emesa) „Geschichte des Theagenes und der Charikleia“, die von Cervantes und Tasso benutzt und von Calderon auf die Bühne gebracht worden ist. Vgl. Rohde, Der griechische R. und seine Vorläufer (Leipz. 1876). Aus der römischen Litteratur gehören des Petronius schmutziges, aber als Sittenbild der Neronischen Zeit interessantes „Satirikon“ und des L. Apulejus (130 n. Chr.) „Goldener Esel“ oder „Metamorphosen“ hierher, welches unter anderm die Geschichte Amors und der Psyche enthält, nach welcher Raffael seine Fresken in der Farnesina zu Rom entworfen hat. Das christliche Mittelalter setzte der trocknen Chronik und der biblischen Wunder- wie der wunderbaren Heiligengeschichte die erdichtete (oder dichterisch ausgeschmückte) und profane, aber gleichfalls wunderbare Historie entgegen, die, wie erwähnt, von der Sprache derjenigen Völker, bei denen sie zuerst auftrat (lingua romana), den Namen R. empfing. Neben „Romanen in Versen“, unter denen sich Hartmanns von Aue „Armer Heinrich“, Rudolfs von Ems „Guter Gerhard von Köln“ und die nordfranzösische Liebesgeschichte von „Aucassin und Nicollette“ (13. Jahrh.) auszeichnen, kommen die schlüpfrigen Contes und Fabliaux der französischen wandernden Minstrels und Jongleure (die Vorläufer der Novellen des Boccaccio und der Königin von Navarra) sowie die derben Schwänke der deutschen Hofnarren und fahrenden Sänger (Neidhart Fuchs, Pfaff von Kahlenberg, Wernher des Garteners Dorfgeschichte „Meier Helmprecht“), die Vorläufer der Schelmen- und Spitzbubenromane, auf, an welche sich die gespreizten allegorischen („Roman de la rose“, 13. Jahrh.) und die phantastischen Ritterromane (des Vasco da Lobeira „Amadis von Gallien“ im 14. Jahrh. und dessen zahllose Fortsetzer und Nachahmer, darunter Kaiser Max mit seinem „Weißkunig“ und „Theuerdank“) anschließen, während die anmutige Darstellung des wirklichen Lebens in kunstvoller Prosa in Boccaccio („Decamerone“), Don Juan Manuel („Graf Lucanor“) und deren Nachahmern (Chaucer in England, Margarete von Valois in Frankreich) ihre Meister fand. Mit der unübertroffenen Satire auf die Ritterromane, dem „Don Quichotte“ (zuerst 1605) des Cervantes, beginnt die kunstmäßige Vollendung des Romans in Spanien in humoristischer Gestalt, während Mendoza (gest. 1575) durch seinen „Lazarillo de Tormes“, Quevedo (gest. 1645) durch seinen „Großen Schelm“ („Gran tacaño“), Guevara durch seinen „Hinkenden Teufel“ die Gattung der komischen „Schelmen- und Spitzbubenromane“ begründeten, die später in Frankreich (Scarrons „Roman comique“), England (Fieldings „Tom Jones“) und Deutschland („Simplicissimus“ von Grimmelshausen) nachgeahmt wurden. Rabelais (gest. 1553) verpflanzte den satirischen R. („Gargantua und Pantagruel“) nach Frankreich, Fischart in ungeschlachter Bearbeitung nach Deutschland. In Italien führte Sannazaro durch seine „Arcadia“ (1502) den Schäferroman des Longos wieder ein, der sich von da aus nach Spanien (Cervantes’ „Galatea“), England (Philipp Sidneys „Arcadia“), Frankreich (d’Urfés „Astraea“) und Deutschland (Romane der Pegnitzschäfer) verbreitete. Das affektierte Römertum unter Ludwig XIV. brachte in Frankreich die langen Bändereihen des politisch-galanten Romans der Scudéry und des Calprenède hervor, die den Versailler Hof in römischer und orientalischer Maske darstellten und vom Herzog Anton Ulrich von Braunschweig („Herkuladiskus und Herkuladiska“), Ziegler („Die asiatische Banise“), Lohenstein u. a. in Deutschland kopiert wurden. Mit dem Beginn des 18. Jahrh. erfand in England Daniel Defoe („Robinson Crusoe“) den Reiseroman mit pädagogisch-didaktischer Tendenz und rief dadurch namentlich in Deutschland eine Unzahl „Robinsonaden“ mit und ohne Tendenz hervor, von welchen „Die Insel Felsenburg“ und Campes „Robinson“ die bedeutendsten sind. Zu gleicher Zeit zeichneten sich ebendaselbst Swift („Gullivers Reisen“) im Fach des satirischen, Fielding und Smollet in dem des komischen Romans aus; Richardson (dessen „Clarisse“ von Rousseau in der „Neuen Heloise“, von Goethe im „Werther“ nachgeahmt wurde) schuf den sentimentalen, Goldsmith („Landprediger von Wakefield“) den humoristischen Familienroman, während Sternes sentimental-humoristische „Reise“ und „Tristram Shandy“ das Vorbild nicht nur aller spätern englischen (Dickens, Thackeray u. a.), sondern auch der deutschen humoristischen Romanschriftsteller (Hippel, Jean Paul) geworden sind. Der sentimentale R. fand in Frankreich außer Rousseau in Marivaux und Prévost d’Exiles („Manon Lescaut“), das frivole Sittenbild in Crébillon („Le sopha“), Diderot („Les bijoux indiscrets“, „La religieuse“), der satirische R. in Voltaire („Candide“, „L’ingénu“) glänzende Vertretung. In Deutschland bemächtigte sich, dem Geiste der Nation entsprechend, der Romanform vorherrschend die didaktische Tendenz, aus welcher der philosophische R. (Jacobis „Woldemar“ und „Allwills Briefsammlung“), der Kunstroman (Heinses „Ardinghello“ und „Hildegard von Hohenthal“, Tiecks „Ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ und „Sternbalds Wanderungen“), der pädagogische R. (Goethes „Wilhelm Meister“, Gutzkows „Söhne Pestalozzis“), der politische und soziale Tendenzroman (die Romane des Jungen Deutschland, Gutzkows „Wally“ und „Ritter vom Geist“, Spielhagens „Hammer und Amboß“ und „In Reih’ und Glied“, Auerbachs „Landhaus am Rhein“, Freytags „Soll und Haben“ u. a.) hervorgegangen sind. Der Schotte Walter Scott wurde durch seine „Waverleynovellen“ der Schöpfer und das Muster des historischen Romans und als solches in Italien von Manzoni („Promessi sposi“), d’Azeglio („L’assedio di Firenze“), Cantù („Margherita Pusterla“) u. a., in Frankreich von Victor Hugo („Notre Dame“, „1793“), A. de Vigny („Cinq-Mars“) u. a., in Deutschland am besten von Wilibald Alexis („Roland von Berlin“, „Isegrimm“) und außerdem von Spindler („Der Jude“, „Der Invalide“), König („Die Klubbisten in Mainz“, „König Jérômes Karneval“), Henriette Paalzow („St.

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 917. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s0917.jpg&oldid=- (Version vom 18.11.2024)