Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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schon hat es seine Marken tief in Deutschland eingekerbt, und ein russisches Grenzheer kann in einem Tagemarsch in Breslau seyn, im Mittelpunkte deutschen Lebens. Kein Strom, kein Gebirge, nicht einmal eine Schanze schirmt bis zur Stunde Deutschland nach dieser Seite – wehrlos liegen dort die herrlichen Städte voller Intelligenz und Industrie, wie eine Taube zwischen den Klauen des Adlers. Der Adler aber, Rußlands Monarch, ist unstreitig der that- und willenskräftigste Fürst in Europa. Er ist ganz Russe – und ganz Russe wird er bleiben bis zum letzten Hauch seines Lebens. Ich begreife nicht, wie man über seine Absichten nur einen Augenblick in Zweifel seyn konnte. Am Tage seiner Thronbesteigung hat er das Programm seiner Regierung geschrieben, und die Kanonen, mit denen er die Empörer vor seinem Pallaste niederschmetterte, verkündigten es der Welt laut genug. Alle Kräfte des Reichs in der russischen Nationalität zu vereinigen, Rußlands Kultur auf eigne Füße zu stellen, Rußland von den Ideen Englands, Frankreichs, Deutschlands zu trennen, die schlummernden Keime der materiellen Wohlfahrt im ganzen Reich zu wecken, ihm eine Industrie zu schaffen, die es von fremder Industrie ganz unabhängig mache, kurz Rußland von dem Auslande vollständig zu emancipiren – (und in welcher Schreckengestalt wird dann der Coloß der übrigen Welt erscheinen!) – ist der leitende Gedanke seines Strebens. Dabei erkannte seine Klugheit, daß er seinen Zweck, Rußland von der Hülfe der westeuropäischen Intelligenz, Industrie und Wissenschaft zu befreien, nur dadurch erlangen könne, daß er den Verkehr mit Europa vervielfältigte, um sich dessen Verfahrungsweisen anzueignen. Während er durch einen Ukas dem russischen Adel bei Strafe der Confiskation seiner Güter verbietet, sich über fünf Jahre aus dem Lande zu entfernen; während er ihm Pässe nach England und Frankreich verweigert; während er ihm untersagt, seine Kinder im Auslande erziehen zu lassen; während er befiehlt, daß, wenn die Aeltern reisen wollen, die erwachsenen Söhne gleichsam als Geiseln zu Hause bleiben müssen; überschwemmt er Westeuropa, besonders England, mit den Zöglingen der Akademien und polytechnischen Institute, mit Offizieren des Geniewesens und Handelsagenten, um die Vervollkommnungen in dem Fabrik- und Industriewesen an Ort und Stelle einzusehen und der russischen Industrie zu gewinnen. Jede neue nützliche Erfindung, jede verbesserte Maschine, die sich Rußland aneignet, betrachtet es wie eine Eroberung. Seine Agenten im Auslande, in Deutschland, Frankreich, England, sind unablässig gespornt, die gewerblichen Fortschritte zu beobachten, die Auswanderung geschickter Arbeiter für die russischen Fabriken als Contremaitres und Chefs d’Ateliers zu begünstigen, und wo immer eine industrielle Erscheinung sich über das Gewöhnliche erhebt, da ist sie auch schon ein Gegenstand seiner Forschung. Daher die reißenden Fortschritte des russischen Industriewesens seit dem Regierungsantritt dieses Monarchen, Fortschritte, die man außerdem gar nicht würde begreifen können.
Das Gouvernement Moskau ist das Centrum dieser industriellen Entwickelung. Die alte Czarenstadt ist Fabrikstadt geworden und die Fürsten sind Fabrikherren. Von Moskau hat sich dieser Geist in die benachbarten
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/47&oldid=- (Version vom 29.12.2024)