Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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verflog, die Körner gingen im Stillen auf. – Die Hessen, als Volk, waren in den sechs Jahren der westphälischen Herrschaft weiter gekommen, als sie sonst in sechs Jahrzehnten gekommen seyn möchten. Wer’s nicht sah, nicht sehen konnte und nicht sehen wollte, das war der Kurfürst. Er starb – und der einzige große Gedanke seines Lebens geht nun wie ein Riesengespenst am hellen Tage um und stattet das schöne Cassel mit dem unheimlichen Conterfei eines „verwünschten Schlosses“ aus. Die Kattenburg sollte, wie eine Apotheose der Fürstenmacht, sich über alles Gemeinere und Niedrigere erheben: – über eine Million Thaler kostete die Substruktion allein; andere Millionen waren zur Vollendung nöthig und gesammelt; aber keine Hand regte sich mehr zum Fortbau, nachdem die Hand starr geworden war, deren Wink die Massen von Arbeitern um den neuen Thurm von Babel geschaart hatte, und wo die hessischen Regenten in vergoldeten Festsälen ehrfurchtsvolle Huldigungen entgegen nehmen sollten, – da sehen jetzt die Casseler dürres Gestrüpp ranken, Käuze flattern, Unken schleichen und die Ratten halten Rath und Gelag.
Bei der Kattenburg Schicksal mag man die Schmälerung des Ständehauses leicht vergessen. – Wenn wir aber von den allgemeinen Hemmnissen eines Gesund- und Starkwerdens Deutschlands, von dem einerseits absolutistischen und hierarchischen Fortschreiten und von der anderseits gleich widerlichen Neigung zum Materialismus und zu dem einer höhern Intelligenz feindlichen und Gleichgültigkeit gegen die ideellen Güter nährenden Treiben ab und auf die constitutionellen Zustände Kurhessens sehen, auf die Ereignisse, welche dort das öffentliche Leben bis in das tiefe Innere erschüttern: – so stimmen wir der tröstenden Ueberzeugung bei, welche der brave, gefangene Jordan aussprach: „Das constitutionelle Leben ist ein Keim der Zeit, – und was in der Zeiten Grund am tiefsten wurzelt und zum kräftigsten und dauerhaftesten Baume groß wächst, das gedeiht nur langsam und reift unter Stürmen. Eine große Idee, welche einmal in der öffentlichen Meinung, von deren Daseyn und Macht jeder Tag neues Zeugnis gibt, Wurzel geschlagen hat, die entwickelt sich vermöge der eigenen, innewohnenden Lebenskraft stets bis zu ihrer gänzlichen Vollendung, und wird sie auch in ihrem Fortgange durch äußere Hindernisse aufgehalten, so dient das nur, ihre verborgene Kraft zu spannen. Zur rechten Stunde sprengt sie dann schon die Kruste mit Uebergewalt, und um so rascher, vollkommner durchgeht sie dann die Stadien ihrer Entwickelung. – Kein Schmetterling ohne Verpuppen.“
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/43&oldid=- (Version vom 29.12.2024)