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Die untere Neustadt ist derjenige Stadttheil, welcher am wenigsten architektonisches Interesse hat. Eine hübsche Kirche, das guteingerichtete Waisenhaus mit Gartenanlagen und die ehemalige Zwingburg (das sogenannte Kastell), welche zuweilen als Staatsgefängniß benutzt wird, machen die Sehenswürdigkeiten dieses kleinen Stadtviertels aus.

Cassel’s Schönheitsruf beginnt mit der Regierungsepoche Karl’s, eines weisen und guten Fürsten, der durch Aufnahme der aus ihrem Vaterlande vertriebenen Reformirten neue Keime der Bildung, des Geschmacks und der industriellen Thätigkeit herpflanzte, durch den Zuwachs der Bevölkerung die Anlage der obern Neustadt veranlaßte und diese seine Schöpfung unausgesetzt mit Bauanlagen schmückte, welche sein geläuterter Geschmack von den Auswüchsen frei hielt, die die meisten Werke jener Zeit in Deutschland zu wahren Wechselbälgen der Kunst verunstaltet haben. 60 Jahre lang hat Karl für das materielle und geistige Wohl seines Landes gewirkt. Sein Nachfolger, Friedrich I, als Gatte der Königin Eleonore Friederike auf Schwedens Thron berufen und fern von seiner Hauptstadt, ließ nur erhalten, was Karl gegründet hatte; um so glänzender aber war die Regierungszeit Friedrich’s II für Cassel, von 1765 bis 1785. Dieser Fürst, den die Baulust als Leidenschaft beherrschte, welche zu befriedigen er auch solche Opfer nicht scheute, vor denen das Herz eines rechten Landesvaters zurückschreckt, ließ eine Menge berühmter Baumeister kommen, um die überschwenglichen Entwürfe auszuführen, welche er für die architektonische Verherrlichung seiner Hauptstadt gemacht hatte. Durch sein Beispiel, und wo es nöthig war, durch unmittelbare Aufforderung erweckte er gleichartige Bestrebungen bei seinen Hofdienern, den Beamten und den Reichern des Gewerbstandes: und während er Kirchen, Brücken und Paläste aufführte, Lustgärten mit Wasserkünsten und Orangenhäusern anlegte, erhoben sich ganze Straßen der schönsten Privatwohnungen. Zweckmäßige Bauordnungen entfernten zugleich eine Menge Uebelstände, welche die ältern Stadttheile verunzierten. Wollte Jemand bauen und der Riß gefiel dem Fürsten, so schenkte er wohl Steine und das Material dazu, oder erleichterte die Aufführung durch Anleihen für geringe Zinsen. Den Künsten und Wissenschaften befreundet, erweiterte er die vorhandenen Sammlungen und stiftete neue und prächtige Gebäude zu ihrer Bewahrung.

Trotz dieser Bauten, trotz eines Heeres von Künstlern aller Art, welche er zu ihrer Ausschmückung von überall her an seinen Hof rief und freigebig besoldete, trotz der glänzenden Feste, die er veranstaltete, drückte keine neue Steuer Hessens Volk: – vielmehr verminderte er die Abgaben, die bis zu seiner Regierungszeit auf dem Lande gelastet hatten. Wie er das angefangen? Leider! gibt die Geschichte eine furchtbare Antwort: Er verkaufte die Söhne des Hessenlandes für so und so viel den Kopf an England, das im deutschen Blute die junge Freiheit in Amerika zu ersäufen gedachte. Aber die Vorsehung machte es anders. Die Gebeine der verhandelten Hessen, sie düngten zwar Neuenglands Küsten; doch die Freiheitssaat wuchs um so herrlicher