Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Die Kinderzeit der Menschheit ist eine längst vergangene; aber auch die Jugendjahre unsere Geschlechts sind vorüber. Die himmlische Zeit, wo der menschliche Geist seine dunkle Knospe sprengte, die Zeit der ersten religiösen Erkenntniß, der ersten Wissenschaft, der ersten Poesie, der ersten Forschungen im Reiche der Natur, der ersten Zurüstung für nützliche Thätigkeit ist durch weite Räume von der Gegenwart geschieden, und auch jene ist dahin, wo eine mächtigere Triebkraft der Menschheit geistige Knospe zur Entwickelung spornte, wo das unauslöschliche Feuer der Begeisterung für das Ideale sich mit der höchsten Körperkraft, der höchsten Gesundheit, der höchsten Schönheit paarte, kurz, wo an allen Gütern, welche dem Jünglingsalter zufallen, die Menschheit reich war. Sie steht jetzt auf der Schwelle des gereiften männlichen Alters. Wir sind reich an den realen Gütern, welche der Fleiß unserer Jugend erworben; aber deren Feuer ist unser Erbe nicht. Wir sind reicher, unendlich reicher als unsere Vorältern an Kenntnissen, Erfahrungen, Uebungen des Geschicks; unzählige Irrthümer sind aus unserm Gesichtskreise verschwunden; aber unendlich ärmer auch sind wir an idealen Freuden. Die Entzückung der Jugend erwärmt uns nicht mehr und die Lust der Begeisterung schießt nicht mehr, wie ehedem, in Riesentrieben auf am üppigen Baume des Lebens. Wo sind die Menschen, wo sind die Völker jetzt, welche für große Ideen beharrlich und bis zur letzten Aufopferung erglühen? Wo, unter welchem Volke, wäre es jetzt möglich, daß ein Christus die Welt regenerire, und ein Mohammed Millionen fände, mit Hingebung seine Mission zu erfüllen? Sind auch hie und da einzelne Herzen und einzelne Völker für große Ideen noch empfänglich, so ist doch die Beharrlichkeit in unbegrenzter Aufopferung nimmer zu finden, welche die Jugendgeschichte unsers Geschlechts auf so vielen Blättern schildert, und die noch das Oel für das schwächere Feuer späterer Zeiten ist. Die Idee allein bewegt die Menschen nicht mehr mit Orkanenkraft und schleudert ihre Wogen gen Himmel; – die Idee hat nur noch den kleinern Antheil an den stürmischen Erscheinungen der Menschenfluth: viel mächtiger wirken materielle Beweggründe und Hebel, und wo nachhaltige Wirkungen erfordert werden, da sind sie der heutigen Menschheit unentbehrlich. Die Vorältern wagten viel leichter, denn sie waren jung; ihnen durfte nur ein Christus, oder, wenn Ihr’s lieber wollt, ein Gottessohn, auf dem Berge stehen, und sie kamen herbei, ihn zu ehren, ihm zu glauben, ihm zu folgen; wir, das männlich-gereifte Geschlecht, das will weniger wagen, als erwägen, und viel näher als dem Idealen auf göttlichen Höhen steht unser Sinnen und Trachten dem realen Vortheil, dem ruhigen, selbstischen Genuß. Man strebt weniger darnach, der Wirklichkeit Idealität zu leihen, als umgekehrt, diese zur Wirklichkeit herabzuziehen. Suchen wir ja nach Idealen, so suchen wir sie nicht mehr außerhalb
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/192&oldid=- (Version vom 3.1.2025)