Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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die Citadellen Rumili-Hissar auf europäischer, Anadoli-Hissar auf asiatischer Seite. In den ungeheuern Casematten der letztern ist es, wo von jeher die in den Fehden mit den christlichen Mächten gemachten Gefangenen aufbewahrt wurden, und mit Schaudern erblickt man diese scheußlichen Kerker, wo die herzlose türkische Barbarei, zu deren Erhaltung jetzt die europäischen Könige zusammenstehen, mehrmals die unglücklichen christlichen Krieger verschmachten ließ. Bei Rumili-Hissar geht eine enge Schlucht herab, in deren Tiefe der Bach Göksu seine Gewässer dem Bosporus zuführt. Verfolgt man diesen Bach, so gelangt man in den reizendsten Grund von Constantinopels Umgebung, in das Thal der himmlischen Wasser, mit einem Kiosk des Sultans und den Landhäusern vieler Großen. Hier ist an jedem heitern Tage im Sommer die vornehme Welt der Hauptstadt versammelt, und unzählige Gruppen lagern malerisch im Schatten der Platanen und Cypressen an den rieselnden Quellen, die zum Theil als Springbrunnen gefaßt sind. Auch die Frauen fehlen dann nicht. Der vornehme Türke führt sie in mit Stieren bespannten Wagen hinaus; aber um die verschleierten Gestalten kreisen mißtrauische, wachsame Hüter und weisen jede ungehörige Neugier zurück. In dem bunten Gewimmel spielen die Verkäufer von Erfrischungen eine Hauptrolle; auch der wandernde Conditor trägt Zuckerwerk, Crêmes und dergleichen Näschereien im breiten Korbe auf dem Kopfe umher. Aber der nüchterne Türke trinkt bloß Wasser, das er im heißen Sommer mit Schnee kühlt, den die Handler aus dem Gebirge in kleinen Ballen zum Verkaufe herbringen. Er legt einen Schneeballen vor dem Ausguß seines Kruge, und das durchfließende oder sickernde Wasser erlangt dadurch die gewünschte Kühlung. – Zunächst Skutari erhebt sich das Vorgebirge Candilli über einem schönen Flecken desselben Namens, und auf seinem Scheitel prangt der kaiserliche Sommerpalast Tshengel-Köi; in unmittelbarer Nähe desselben aber die Lustörter Beglerbeg und Istawros ebenfalls mit großherrlichen Schlössern. Nun beginnt Skutari selbst, und gegenüber breitet das Häusermeer Constantinopels über sieben Höhen und Thäler sich aus.
Auf europäischer Seite liegt die größte Menge der kaiserlichen Sommerresidenzen. Manche sind in einem verfallenen Zustande, denn es ist die Gewohnheit der türkischen Herrscher, daß jeder sich selbst einen neuen Palast am Bosporus baue; die Menge der Schlösser wird dadurch maßlos vermehrt, und über das Neue das Alte vernachlässigt. Auch der jetzige Sultan hat unweit Skutari einen neuen Palast, den sein Vater schon anfing, aber nicht vollenden konnte. Der Tschiragan prangt nach dem Meere zu mit einer prachtvollen Säulenfaçade von Marmor. Wundervoll ist die Aussicht von der Terrasse dieses Schlosses auf Constantinopel und die Ufer des Bosporus. Doch im Innern ist Flitterkram statt solider Pracht, und man sieht’s an der ganzen Ausstattung, daß die goldnen Tage des Sultanate vorüber sind. Unfern davon stehen die Paläste der dem Beherrscher der Gläubigen gestatteten sieben Sultaninnen, deren lange Fronten mit vorspringenden Erkern
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/147&oldid=- (Version vom 2.1.2025)