Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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der Willkühr und Tyrannei: – Stellenverkauf, Lüge, Trug, Diebstahl der Obrigkeit, Erbarmungslosigkeit und permanente Verschwörung des Fiskus gegen Gut und Eigenthum der rechtlosen Unterthanen ein byzantinisches Erbe sind und daß die Türken in der Beherrschungs- und Verwaltungsweise des Landes nur die Namen änderten, nicht einmal die Modalitat, geschweige den Grundsatz; mag also auch das cohärente Fortleben des byzantinischen Reichsphantoms im Scheine des Halbmonds nicht abgeleugnet, mag auch zugegeben werden, daß die aus Turkestan vor 4 Jahrhunderten hereingebrochene Gewalt im Sinne und Blut mit Ost-Rom eins geworden ist und sich am Hofe nichts geändert hat, als der Glaube: – das Unmögliche einer Wiederherstellung des türkischen Orients aus ureigner Kraft ist doch bei der augenfälligen Verwesung nimmer in Abrede zu stellen! Wäre der Islam nicht selbst in Widerpart mit sich und nicht in sich selbst zerfallen, dann wäre noch eine Chançe da; aber die Rolle des Padischah ist ausgespielt, sein religiöses Scepter ist zerbrochen, der Ruf des Großherrn sammelt nicht mehr die Völker des Ostens unter die Fahne des Propheten. Todte Ideen, erloschene Gluthen, entflohene Geister werden dort nicht wieder in’s Leben beschworen. Und darum sollt Ihr, – zumal Euern verzagten Händen voller Neid und voller Furcht vor einander die Titanenfunktion so übel ansteht, den fallenden Coloß des Türkenreichs im Sturze aufzuhalten, – Euch ermuthigen zum Vollzug Dessen, was Ihr heimlich in Eurer Seele Alle beschlossen habt. Schreibt für die Familie Osmans eine Ordonnanz, wie Napoleon einst für die Braganzas that, und schickt Flotten, Heere – Ihr habt sie ja! – zu des Bosporus Ufern, Euer Decret zu vollziehen. Macht schnell und fesselt die schon getheilten Völker durch nachdrucksvolle That! Oder wollt Ihr das nicht, so sprecht ein großes Wort zu einem großen Versuch: stellt den Thron des jungen regenerirten Griechenlands in die Siebenhügelstadt, ärntet dafür den Applaus der Welt und, vielleicht! auch in der Geschichte ein dankendes, ehrendes Blatt! –
Wir wollen nun den Bosporus selbst betrachten. „Wie eine ungeheuere Wasserschlange in sieben Windungen“ streckt sich diese Meerenge drei Meilen lang vom Meere von Marmora zum Euxinus hin, welcher seine Fluthen in jenes ausgießt. Sind die nächsten Umgebungen der alten Constantinsstadt landeinwärts wenig angebaut, öde, kahl und menschenleer, so sind dagegen die Thäler, die Abhänge und Gestade des Bosporus entzückend, und seit Jahrtausenden der gepriesene Wohnsitz einer dichten Bevölkerung und sorgfältiger Kultur. Anmuthige Gärten, Lustwäldchen, Flecken und Dörfer, Sommerpaläste, Landhäuser und Kiosks, prächtige Springbrunnen und die auf Vorgebirgen und Höhen malerisch gelegenen alterthümlichen Vesten, oder die Trümmer aus der griechischen und christlichen Vorzeit, gewähren ein Bild voller Reiz und Mannichfaltigkeit.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/145&oldid=- (Version vom 1.1.2025)